Recherche 01. November 2018, von Felix Reich

«Bei einer harten Auslegung geht es ans Eingemachte»

Abstimmung

Kirchenratspräsident Michel Müller erklärt, warum der Zürcher Kirchenrat die Selbstbestimmungsinitiative ablehnt. Abgestimmt wird am 25. November.

Warum lehnt der Kirchenrat die Selbstbestimmungsinitiative ab?

Michel Müller: Es war relativ einfach. Wir haben die drei Grundlagetexte des Kirchenbunds gelesen, die theologisch sehr überzeugend sind. Wer die Botschaften ernst nimmt, kann gar nicht zu einem anderen Schluss kommen, als die Selbstbestimmungsinitiative abzulehnen. Wenn jemand unterdrückt wird oder seine Menschenrechte verletzt werden, ist es ihm egal, ob das durch eine demokratisch legitimierte Mehrheit oder durch ein autoritäres Regime geschieht. Das bringt der Kirchenbund hervorragend auf den Punkt.

Der Kirchenbund hat aber Stimmfreigabe beschlossen.

Nicht einmal das. Der Kirchenbund hat einfach nichts mehr dazu gesagt.

Und jetzt kommt die Korrektur aus Zürich? Normalerweise überlässt der Kirchenrat die eidgenössische Ebene dem Kirchenbund.

Es ist keine Korrektur, sondern eine Konkretisierung. Der Kirchenrat lässt sich vom Kirchenbund inspirieren und zieht die logischen Schlüsse aus dessen Texten.

Gegenüber «reformiert.» begründete der Kirchenbund seine Zurückhaltung damit, dass im Zusammenhang mit der Selbstbestimmungsinitiative kein «Bekenntnisnotstand» herrsche.

Der Begriff ist unglücklich. Es ist ein katholisches Verständnis von kirchlicher Obrigkeit, wenn man meint, der Kirchenrat mische sich mit seiner Parole in die Politik ein und schreibe den Kirchenmitgliedern quasi als Lehramt einen Abstimmungsentscheid vor. Der Kirchenrat hat keinerlei Autorität über das Gewissen der Reformierten. Insofern hat auch der Kirchenrat Stimmfreigabe beschlossen: Die Mitglieder sind frei in ihrem Entscheid. Sie sind aber dazu eingeladen, die Überlegungen von Kirchenrat und Kirchenbund in ihre Entscheidungsfindung einfliessen zu lassen. Die reformierte Kirche gibt Orientierung, aber sie befiehlt nichts.

Und warum braucht das Stimmvolk vor der Abstimmung über die Selbstbestimmungsinitiative kirchliche Orientierungshilfe?

Unter Umständen geht es bei der Selbstbestimmungsinitiative um sehr viel.

Nämlich?

Steht nach einem Ja wirklich die Menschenrechtskonvention zur Disposition, geht es aus Sicht der Kirche ans Eingemachte. Von den Menschenrechten kann sie sich nicht mehr distanzieren. In der Kirchenordnung steht, dass sich die reformierte Kirche des Kantons Zürich für die Menschenwürde einsetzen muss. Bei einer harten Auslegung der Selbstbestimmungsinitiative wäre also tatsächlich das christliche Bekenntnis betroffen.

Die Befürworter sagen aber, die Verfassung schütze die Menschenrechte ausreichend.

Das stimmt. Doch kein Volk schützt zum Vornherein die Menschenrechte. Die Menschenrechtskonvention bewahrt die Schweiz als ein Land ohne Verfassungsgerichtsbarkeit davor, dass die Menschenrechte bei Verfassungsänderungen eingeschränkt werden. Diesen Schutz braucht jede Demokratie, weil sie sonst zur Diktatur der Mehrheit werden kann. Auch das zeigt der Kirchenbund in seinen Botschaften sehr gut auf: Der Souverän darf sich nicht selbst vergöttern, und das Wohl der einzelnen Person steht über staatlichen Normen und politischen Prinzipien.