Recherche 29. September 2025, von Hans Herrmann

Was auf einem Bierdeckel so alles Platz hat

Jubiläum

Die Solothurner Reformierten feiern heuer den 100. Geburtstag ihrer Stadtkirche. Deren Architekt Armin Meili verwendete für die erste Skizze eine ganz spezielle Zeichenfläche.

Stattlich ragt das helle Gebäude in den spätsommerlich blauen Himmel: ein neoklassizistischer Bau mit Freitreppe, hoher, pfeilergestützter Eingangshalle und einem Turm, der von einem markanten Säulenpavillon gekrönt ist. Dies ist die reformierte Stadtkirche Solothurn, das konfessionelle Pendant zur katholischen St. Ursenkathedrale in der Barockstadt an der Aare. 

Der Bau steht knapp ausserhalb der Altstadt – aber selbstbewusst als Zentrum der reformierten Diasporagemeinde in jener Stadt, in welcher der Bischof von Basel residiert. Kaum zu glauben, dass diese Kirche einst auf handtellergrossem Raum Platz fand: Architekt Armin Meili skizzierte einen ersten Entwurf auf einem Bierdeckel. Das war im Jahr 1917, als die Solothurner Reformierten für ihre erste Kirche aus dem Jahr 1867 bereits Ersatz brauchten. «Das Bauwerk zeigte Risse und andere Schäden», sagt Kirchgemeinderat Daniel Aeschlimann.

Auch drängte sich aufgrund der vielen Reformierten, die im Zuge der Industrialisierung Solothurns zugezogen waren, ein grösserer Bau auf. Sieger des ausgeschriebenen Wettbewerbs wurde der 25-jährige Luzerner Armin Meili. Dessen Pläne wurden jedoch erst 1922 in Angriff genommen, nach den Unsicherheiten des Ersten Weltkriegs. 1925 war der Bau fertig. Nun feiert die Gemeinde den 100. Geburtstag ihres Gotteshauses.

Musiktheater als Ode an die Hoffnung

Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens ihrer Kirche führt die reformierte Kirchgemeinde Solothurn das Musiktheater «Rahels Lied» auf. Die szenischen Teile wurden eigens hierfür geschrieben. Im Fokus steht das, was den Menschen angesichts der ak-tuellen Krisen Hoffnung gibt. Ein Dutzend Akteurinnen und Akteure zwischen zehn und siebzig Jahren hat die Szenen unter der Regie von Anina Müller einstudiert. Zwischen den Szenen erklingen Teile aus «Tuvayhun – Beatitudes for a Wounded World» des norwegischen Komponisten Kim André Arnesen. «Dieses Werk greift musikalische Traditionen verschiedener Kulturen auf und bewegt sich in eingängiger Form zwischen Klassik und Folk», schreiben die Veranstalter. Unter der Dirigentin Lea Scherer  singen und musizieren der Solothurner Mädchenchor und ein Orchester aus professionellen Musizierenden.

Rahels Lied. 30. Oktober, 1. und 2. November, diverse Uhrzeiten, Stadtkirche Solothurn.

Informationen online

«Auf guten Grund gebaut»: So lautet das Motto der Feierlichkeiten. Das ist doppelt zu verstehen: einerseits mit Blick auf die Kirchgemeinde selber, andererseits bezogen auf das Kirchengebäude. Dieses steht nämlich fest und unverrückbar ein paar Meter vom einstigen Standort entfernt auf sicherem Terrain, während die Vorgängerkirche nicht zuletzt deswegen so schnell baufällig wurde, weil diese auf einem zugeschütteten Wassergraben der historischen städtischen Verteidigungsanlage stand. 

In die Breite gebaut 

Zum 100-jährigen Jubiläum liess die Kirchgemeinde ihre Kirche in Teilen sanieren und renovieren. Ihr Inneres präsentiert sich nun in neuer Ausleuchtung und mit historischer Farbgestaltung. Ein Augenschein zeigt: Die Architektur ist nicht von der überlieferten Vorstellung eines langen Kirchenschiffs geprägt. Vielmehr stehen die Bankreihen in einem Raum, der sich vor einer repräsentativen Kanzelwand aus Marmor merklich in die Breite zieht. «Dadurch wird verhindert, dass die hintersten Reihen weit weg von der Kanzel sind», erläutert Aeschlimann das bauliche Konzept. 

Der etwas herrschaftliche Verkündigungssitz in luftiger Höhe ist allerdings kaum mehr in Gebrauch; die Pfarrperson agiert heute näher beim Publikum auf einem Podest am Fuss der Kanzel.

Kirchliche Architektur enthält immer auch Elemente, die sich symbolisch deuten lassen. So hat eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Susan Allemann, Alexandra Flury-Schölch (Mission 21) und Together Weltweit bei einem Anlass der Reihe «Fürobe in der Stadtkirche» das Thema «Leben auf gutem Grund» aufgegriffen. Mit Texten, Musik und kulinarischen Häppchen wurde die schöpfungstheologische Trias «Wasser, Nahrung, Friede» dargestellt, ein Dreiklang, der sich im Gebäude selbst widerspiegelt. 

Die ionischen Säulen, die Blumenornamentik der Decke und die grüne Innenfarbe lassen sich als baum- und strauchbestandener, blühender Garten vorstellen. Für Frieden steht die Friedensglocke im Turm, und das Wasser schliesslich lässt sich trefflich in der Taufkapelle thematisieren, die sich kryptaähnlich unter dem Kirchturm befindet. 

Engagiert in Sachen Wasser 

Zum Wasser pflegt die reformierte Kirchgemeinde Solothurn übrigens auch einen politischen Bezug: Sie ist Mitglied in der Blue Community, einem weltweiten Netzwerk, das sich rund um das Wasser als Menschenrecht engagiert. Just zu ihrem Kirchenjubiläum konnte die Kirchgemeinde jüngst das Zertifikat der Blue Community entgegennehmen. 

Eine 100-jährige Kirche ist nicht nur ein Stück Geschichte, sondern auch voll von Geschichten, Episoden und Anekdoten. Tiefere Einblicke geben eine kleine Ausstellung auf der Südempore der Kirche sowie ein Rundgang mit QR-Codes.

Eindrücklich ist die Episode von der Wiederentdeckung Johanni des Täufers in der Taufkapelle. Diese war in den 1950er-Jahren umgebaut worden, und im Zuge der aktuellen Sanierungsarbeiten beschloss man, sie wieder in den Originalzustand zurückzuversetzen. Beim Rückbau des Bodens kam eine Zeitkapsel in Form einer Biskuitdose zum Vorschein. Zu ihrer Enttäuschung entdeckten die Anwesenden darin aber keine besonderen historischen Trouvaillen, sondern nur bereits bekannte Protokolle und Kopien.

Der Raum ist so gebaut, dass alle in der Nähe der Kanzel sitzen.
Daniel Aeschlimann, Kirchgemeinderat

Um den Frust etwas zu kanalisieren, schlug die ebenfalls anwesende Vorsitzende der Baukommission vor, auch noch die vermauerte Wandnische wieder freizulegen. Nachdem ein kleines Loch in die Wand gespitzt worden war, wurde man für die Enttäuschung mit der Zeitkapsel reich entlohnt: Zum Vorschein kam das längst verschollen geglaubte, bemalte und zinnglasierte Relief, das Johannes den Täufer zeigt, ornamental eingerahmt von Blumenranken. Das Bildnis im Jugendstil nimmt heute in der Nische wieder einen Ehrenplatz ein. 

Weitsichtiger Sigrist 

Erwähnenswert ist auch die Geschichte der Neuverglasung. Jahrzehnte nach dem Bau der Kirche hatte man die ursprünglichen Buntglasfenster durch solche in kühleren Farben ersetzt. Diese sind nun ihrerseits ausgewechselt worden, durch solche in Orange- und Gelbtönen, die die Kirche wieder in die Atmosphäre der Abendsonne tauchen – wie zu Anbeginn. 

Und besser noch: Es sind fast ausschliesslich die Originalfenster. Eigentlich hatte ein früherer Sigrist den Auftrag, diese zu entsorgen. Er tat es auf seine Weise: Statt sie in eine Schuttmulde zu werfen, deponierte er sie ordentlich gestapelt im Estrich der Kirche. Das nennt man weitsichtiges Handeln. 

Ebenfalls ein hübsches Schmankerl rankt sich um den Taufstein in Form eines achteckigen Tisches neben der Kanzel. Er ist ein Relikt aus der Vorgängerkirche von 1867. Beim Abbruch des Gebäudes gelangte der Taufstein in Privatbesitz. Nach drei Besitzerwechseln kam er in einen Garten, wo er jahrelang als unverwüstlicher Aussentisch diente. 1989 schenkte die Besitzerfamilie den Steintisch frisch restauriert der Kirche zurück, wo er wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt wurde.

Die Jubiläumsaktivitäten