Recherche 11. Februar 2021, von Felix Reich

«Die Bibel steckt voller Widersprüche»

Serie

Der Herrliberger Pfarrer Alexander Heit versteht den bürgerlichen Ärger über das reformierte Ja zur Konzernverantwortungsinitiative. Er fordert von der Kirche strikte Neutralität.

Wenn Sie die politischen Stellungnahmen der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) analysieren: Wie lautet Ihr Fazit?

Alexander Heit: Meistens werden gegensätzliche Auffassungen diskutiert, dennoch dringt eine moralische und politische Position durch. Das Schillern zwischen neutraler Analyse und Standpunkt zieht sich durch viele Stellungnahmen.

Und wo liegt das Problem? In einer Demokratie tragen Positionsbezüge zur freien Meinungsbildung bei.

Solange sich die reformierte Kirche als Volkskirche versteht, sollte sie keine politischen Parolen fassen.

Wenn Initiativen ethische oder religiöse Fragen tangieren, will man doch wissen, wo die Kirche steht.

Diesem medialen Druck, eindeutige Antworten zu geben, darf sich die Kirche nicht beugen. Eine ausgewogene Analyse im Licht der Bibel ist hilfreicher und anspruchsvoller als eine vorschnelle Positionierung. Das Papier zur Konzernverantwortungsinitiative (KVI) von EKS und Bischofskonferenz wurde der Komplexität der Realität nicht gerecht. Es hatte eine dogmatische Schlagseite, die sich eine reformierte Kirche nicht zu eigen machen sollte.

Positioniert sich die Kirche ständig, stösst sie einen Teil ihrer Mitglieder vor den Kopf.

Weshalb?

Wir Reformierten sagen den Leuten nicht einfach, was sie zu denken haben. Vielmehr wollen wir sie dazu befähigen, sich aufgrund ethischer oder theologischer Expertise eine eigene Meinung zu bilden.

Warum ist es so schlimm, wenn die Kirche eine Position vertritt, die ich nicht teile? Ich bin auch nicht immer einverstanden mit den Parolen des Bundesrats und fühle mich in der Schweiz trotzdem zu Hause.

Aus dem Staat können Sie nicht austreten. Positioniert sich die Kirche ständig, egal ob links, rechts oder mittig, stösst sie einen Teil ihrer Mitglieder vor den Kopf. Das sollte sich eine Kirche, der man den Rücken kehren kann, nicht erlauben.

Bezahlte die Kirche ihr Engagement für die KVI mit Austritten?

In Herrliberg gab es einige Austritte, aber wir hatten noch Glück. Von Nachbargemeinden weiss ich von höheren Zahlen. Ich verstehe den Ärger vieler Bürgerlicher, die sich der Kirche verbunden fühlen.

Die Angst vor Austritten macht die Kirche erpressbar.

Nein. Eine elastische Kirche, die auf alle Seiten offen bleibt, ist eben gerade nicht erpressbar. Äussert sie  sich hingegen politisch, enttäuscht sie zwangsläufig Erwartungen.

Wer aus der Bibel eindeutige poli­tische Positionen ableitet, hat ein allzu simples Verständnis von Ex­egese.

Ist für Sie die Grenze schon überschritten, wenn die EKS-Präsidentin sagt, wie sie abstimmt?

Ja. Als Pfarrer bin ich da sehr strikt und sage nie, wie ich abstimme.

Wer in der Politik aktiv ist, wird so unwählbar für ein kirchliches Amt.

Nein. Es gilt sorgfältig zwischen Person und Amt zu trennen. Als Kirche sind wir zur Neutralität verpflichtet. Die KVI-Debatte zeigte, wie divers unsere Mitglieder sind: von bürgerlich bis sozialistisch. Alle müssen wir integrieren können.

Und wie verträgt sich diese Neutralität mit dem Evangelium?

Wer aus der Bibel eindeutige poli­tische Positionen ableitet, hat ein allzu simples Verständnis von Ex­egese. Die Bibel steckt voller Wi­der­sprüche. Sowohl Konservative als auch Linke können sich auf ihr christliches Gewissen berufen. Immerhin zeigt der Ärger vieler bürgerlicher Mitglieder, dass für sie der Glaube auch relevant ist, wenn es um Wirtschaft und Politik geht.

Das Handeln liegt in der Verantwortung des einzelnen, mündigen Christen.

Nur für Pfarrerinnen und Pfarrer gilt das nicht? Sie sollen schweigen.

Keineswegs. Doch als Pfarrer muss ich entgegengesetzte politische Posi­tionen durchsichtig machen, sodass die religiösen Anteile in ­ihnen erkennbar werden. Die Bibel will uns zum Handeln bewegen. Wie dieses Handeln aber konkret aussieht, darf ich nicht diktieren.Das liegt in der Verantwortung des einzelnen, mündigen Christen.

Mit der Bibel in der Hand lässt sich jede politische Position begründen?

Nein. Überall, wo Parteien oder Systeme sich menschenverachtend verhalten, muss sich die Kirche in jedem Fall politisch äussern und klar posi­tionieren. Diese Grenze darf der politische Diskurs nicht überschreiten.

Alexander Heit (51)

In Herrliberg ist Alexander Heit als Pfarrer tätig. Zudem ist er Privatdozent für Systematische Theologie an der Universität Basel. Das Gespräch mit ihm eröffnet eine Interviewserie, in der «reformiert.» die kontroverse Debatte über Kirche und Politik vertieft. In der zweiten Folge rechtfertigt Pfarrerin Catherine McMillan das Engagement der Kirche für die Konzernverantwortungsinitiative.