Recherche 13. Oktober 2025, von Manfred Baumann

Das Grauen vor der Haustür

Gedenkstätte

Auschwitz, Buchenwald und andere: Diese Vernichtungslager sind der Inbegriff des Naziterrors. Persönliche Eindrücke eines Besuchs im weniger bekannten KZ Natzweiler-Struthof.

Natzweiler-Struthof? Ich gestehe, dass mir selber dieses Nazi-Lager lange Zeit nicht bekannt war. Ich bin im solothurnischen Bucheggberg zu Hause. Aus unserer Küche habe ich direkte Sicht auf die Hasenmatt und den Weissenstein. Ein Gebiet, auf welchem die Nazis nach ihrem Einmarsch in die Schweiz historisch belegt ebenfalls ein KZ errichtet und betrieben hätten.

So weit ist es zum Glück nicht gekommen. Dieser Umstand liess jedoch mein Interesse am Lager Natzweiler-Struthof in den Vogesen wachsen. Nach einer Zeit des Hin und Her und des Zögerns habe ich mich nun doch zu einem Besuch des KZ entschlossen. Mein 27-jähriges «Patenkind» begleitete mich.

Unwirklich und doch real

Der Weg nach Natzweiler-Struthof ist zeitlich kürzer als die Fahrt ins Tessin. Natzweiler beziehungsweise Natzwiller, wie die Ortschaft auf Französisch heisst, liegt sozusagen vor der Haustüre. Durch das Herbstlaub der Weinbaugebiete im lieblichen Elsass geht es hinauf in die Vogesen. Der Kontrast könnte grösser nicht sein. Keine Wärme in Sicht, eine unwirkliche Gegend. Und doch unvorstellbar real. Das Lager ist in Treppenform in den Hang gebaut, von unten alles einsehbar.

Da findet sich kein Winkel, kein Meter Raum für Handlungen, die den Nazischergen hätten verborgen bleiben können. Doppelter Drahtzaun, von 1940 bis 1944 elektrisch geladen. Der bewusst prominent platzierte Galgen. 24 Stunden brennendes Licht innerhalb und ausserhalb der Baracken. Wenig Essen an die Insassen. Schwere, oft tödliche Arbeit im Steinbruch. Alles Kalkül, gewollt, beabsichtigt.

Angesichts dieser Anlage und ihrer Schrecken erfasst einen eine Mischung aus Ehrfurcht vor den Menschen, die hier unvorstellbares Leid, Demütigung, ständige Angst, den Tod erfahren haben, und Abscheu vor diesem weiteren «perfektionierten» Ort der unerbittlichen Nazi-Maschinerie.

Baracken des Grauens

Und weiter: Die vier noch bestehenden Baracken. Da ist die Lagerküche, dann eine «Wohnbaracke», weiter das Gefängnis im Gefängnis ohne Toilette im Zimmer, dafür mit Prügelbock. Und schliesslich die abscheuliche Szenerie des Krematoriums mit den sich im selben Trakt befindlichen Räumen für die sogenannten «medizinischen Experimente» am noch lebenden Objekt. Die Aschengrube, bei der die Nazis bewiesen, dass sie ebenso wenig Respekt vor den Toten wie vor den Lebenden hatten. Wie sonst ist es zu erklären, dass die Asche der Ermordeten der Lagerkommandantur als Dünger für den eigenen Garten diente?

Untergebracht war die Lagerkommandantur in der Villa unmittelbar neben dem Hauptlager. Das Gebäude befand sich ursprünglich im Besitz einer Französin und war 1940 von den deutschen Besatzern konfisziert worden. Es bot den Nazi-Schergen besten Blick auf das tägliche Leidensdefilee der Inhaftierten. Erinnerungen an den Film «Schindlers Liste» kommen hoch.

Die Gaskammer im Festsaal

100 Höhenmeter und rund 800 Meter vom Hauptlager entfernt befindet sich der 1904 erbaute Gasthof Struthof aus der Zeit, als der erste Skitourismus in der Region in Blüte stand. Ein Treffpunkt des pulsierenden Lebens, der Freude, mit einem Nebengebäude, das als Tanz- und Festsaal diente. Aufnahmen in Schwarz-Weiss zeigen den Fortschritt, den aufkommenden Tourismus.

Doch 1940 machen die Nazis aus dem Gasthof den ersten Wohnsitz für den Lagerkommandanten. Baracken um den Gasthof werden erstellt. Es sind die provisorischen Unterkünfte für die Inhaftierten, die nun das Hauptlager oberhalb errichten müssen. Der Tanz- und Festsaal wird zur Gaskammer umfunktioniert. Nebst vielen anderen Opfern werden gegen 100 Juden darin nur aus einem Grund vergast: um der Reichsuniversität Strassburg eine Sammlung menschlicher Skelette zur Verfügung stellen zu können. 30 Meter daneben: der Standort des früheren Verbrennungsofens.

Nach drei Stunden vor Ort, dem Besuch des Mahnmals und der Ausstellung reisten wir wieder ab, fuhren dabei durch Rothau. Wir passieren die Bahnstation, an der in der Besatzungszeit vor gut 80 Jahren Tausende angekommen und nie mehr weggereist sind.

Eine bange Frage

Wir sind uns einig: Genug der Trauer, des Unverständnisses, der beinahe mangelnden Fähigkeit, so viel Horror aufnehmen zu können. Als wir nach Ribeauvillé an der anderen Seite der Vogesen ankamen, empfanden wir es als besonders schön, wieder fröhliche Menschen zu sehen. Und in mir wächst die Überzeugung, dass auch die Menschen in Natzwiller, Rothau, Wisches oder wo auch immer in dieser historisch belasteten Gegend mit Freude durchs Leben gehen können. Ja – gehen müssen. Das Grauen und das Entsetzen vor ihrer Haustüre hin oder her.

Unser Besuch in Natzwiller war richtig und wichtig. Er könnte auch für andere wichtig sein, insbesondere für Menschen, die auch heute noch behaupten, unter Hitler sei ja nicht alles schlecht gewesen. Auf der Heimfahrt beschäftigt mich die Frage: Wann wäre vor und während der Zeit des Dritten Reiches der Zeitpunkt gewesen, diese abscheulichen Taten noch zu verhindern? Wenn ich mir aktuelle Entwicklungen auf dieser Welt so ansehe, stellt sich mir diese Frage erneut: Wird es heute auch irgendwann zu spät sein, um noch Gegensteuer geben zu können?

www.struthof.fr