Recherche 14. März 2021, von Nadja Ehrbar

«Die Bibel ist von A bis Z politisch»

Serie

Die Kirche soll einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs leisten, fordert Theologieprofessor Ralph Kunz. Aber nicht von der Kanzel herab, sondern in «Foren für gepflegte Debatten».

Das Burka-Verbot wurde angenommen. Wie haben Sie abgestimmt? 

Ralph Kunz: Mit Nein.

Der Herrliberger Pfarrer Alexander Heit sagt nie, wie er abstimmt. Weshalb tun Sie es?

Die freie Meinungsäusserung ist ein Menschenrecht. Ob es stets weise ist, als Pfarrperson davon Gebrauch zu machen, ist eine andere Frage.

Eignet sich eine Predigt dafür?

Da wäre ich zurückhaltend. Gottesdienste sind keine Diskussionsveranstaltungen, das Evangelium steht nicht zur Debatte. Es gibt jedoch Situationen, in der man auch auf der Kanzel Stellung beziehen muss.

Man kann nicht Christ sein und die Apartheid unterstützen.

Zum Beispiel?

1982 erklärten die Reformierten in Südafrika, dass sich die Rassentrennung und Versöhnung widersprechen. Man kann also nicht Christ sein und die Apartheid unterstützen. Das war ein Entscheidungsmoment: ein Status Confessionis.

Vor der Abstimmung über ein Verhüllungsverbot hat sich die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) für ein Nein ausgesprochen. Durfte sie das?

Ja. Die Frage ist hier, wie die EKS argumentiert. Würde sie sagen, dass nur Christ ist, wer Nein sagt, wäre das ein Missbrauch des Status.

Bürgerliche unterstellen den Kirchenleuten oft, dass diese die politischen Dossiers zu wenig kennen.

Natürlich gibt es Plapperi, die irgendetwas salbadern. Aber Sachkenntnis hängt nicht davon ab, ob man religiös ist oder nicht. Sondern davon, wie sehr man sich mit der Materie befasst. Das gilt für alle Akteure der Zivilgesellschaft. Die Kirche soll – wie andere Nichtregierungsorganisationen auch – einen fundierten Beitrag zum öffentlichen Diskurs leisten. Und wenn sie Position bezieht, muss sie diese natürlich gut begründen.

Heute finden wir es mutig, dass die Kirche im Zweiten Weltkrieg Stellung bezog.

Wann war die Stimme der Kirche im Rückblick besonders wichtig?

Nehmen wir die Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. Der Bundesrat verfolgte eine harte Politik, die rassistische und antisemitische Züge hatte. Dagegen bezogen Pfarrer und die junge Kirche öffentlich Stellung. Das war damals heikel. Heute finden wir es mutig.

Gibt es eine Regel dafür, wann sich die Kirche äussern soll?

Zu Geschäften, bei denen die Macht des Stärkeren rücksichtslos ausgespielt wird. Oder wenn natürliche Ressourcen und damit die Lebensgrundlagen der nächsten Generation zerstört werden. Oder wenn fundamentale Rechte der Schutzlosen übergangen werden. 

Dann macht die Kirche also alles richtig, wenn sie sich bei der Asylpolitik klar positioniert?

Ja, denn es gibt Menschen in der Kirche, die über das nötige Sachwissen verfügen, um Stellung zu beziehen. Aber Politik ist auch ein Kompromiss zwischen dem Wünschbaren und Machbaren. Wenn die Kirchenur ihre Ideale hochhält, die nicht umgesetzt werden können, oder die Linken den Rechten oder die Rechten den Linken ihr Christsein absprechen, ist das wenig hilfreich.

Auf der Kanzel fordern Sie politische Zurückhaltung. Wie sollen sich Kirchenleute Gehör verschaffen?

In der Kirche haben leitende Behörden linke und rechte Mitglieder. Das verpflichtet. Nicht zum Schweigen, aber dazu, Foren für gepflegte Debatten in unterschiedlichen Öffentlichkeiten anzubieten. Neben den Gottesdiensten in der Erwachsenen-bildung oder in Zeitungsartikeln, Denkschriften und Tagungen.

Was halten Sie davon, dass sich Kirchgemeinden ganz bewusst ein Profil geben, auch politisch?

Ich finde es gut, wenn ich weiss, ob eine Gemeinde liberal, konservativ oder sozial politisiert. Doch dann muss ich auch entscheiden können, ob ich dazugehören will, und frei sein, mich einer anderen Kirchgemeinde anzuschliessen.

Wann sollten Kirchen schweigen?

Wenn bei einer politischen Frage der Bezug zum Evangelium fehlt. 

Ist die Bibel politisch?

Ja, von A bis Z, weil es um das gute Leben geht. Aber Christen beten auch: «Dein Reich komme». Sie vertrauen darauf, dass Gott im Regiment ist.

Ralph Kunz, 56

Der Pfarrer aus Winterthur ist seit 2004 Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Anfang 2019 hat er mit Theologinnen und Politikern den Thinktank «Kirche/Politik» gegründet. In dieser «reformiert.»-Serie bereits erschienen sind Gespräche mit Pfarrer Alexander Heit aus Herrliberg und Pfarrerin Catherine McMillanaus Schwerzenbach.