Recherche 13. April 2021, von Christa Amstutz Gafner

«Sie fühlten sich an den Pranger gestellt»

Serie

Lasse sich die Kirche für politische Zwecke einspannen, drohten treue Mitglieder obdachlos zu werden, warnt die Bülacher Pfarrerin und SP-Gemeindrätin Yvonne Waldboth.

Gehört die Politik zu den Kernaufgaben der Kirche?

Yvonne Waldboth: Wenn man Politik als Versuch versteht, ein gutes Zusammenleben für alle zu gestalten, gehört sie sicher zu den kirchlichen Kernaufgaben. Mit konkreten Abstimmungsempfehlungen sollten wir aber vorsichtig sein.

Warum?

Bei der Konzernverantwortungsinitiative zum Beispiel ging mir das Engagement der Kirchen zu weit. Das war nicht einfach eine Stellungnahme, sondern eine Kampagne. Persönlich habe ich die KVI befürwortet. Aber ich hatte auch Verständnis dafür, dass sich nicht wenige Mitglieder der Kirche geärgert haben. Ich habe in dieser Zeit viele Gespräche geführt mit bürgerlich orientierten Menschen und Wirtschaftsvertretern, die gegen die Initiative waren. Sie fühlten sich moralisch an den Pranger gestellt.

Liegt es nicht auf der Hand, dass sich die Kirche auch im Sinne ihrer Hilfswerke einsetzt?

Es ging nicht einfach um wichtige Grundwerte, sondern auch darum, welchen Weg man für den besten hält, um diese Ziele zu erreichen. Gegen die Initiative zu sein, bedeutete nicht automatisch, faires Wirtschaften abzulehnen und Menschenrechte gering zu schätzen. Anders als unsere Hilfswerke sind die Kirchen immer noch öffentlich-recht­liche Institutionen. Und als solche sollten wir integrierend wirken und niemanden ausschliessen.

Da waren aber auch die vielen Kirchenmitglieder, die sich seit Jahren ganz stark für Entwicklungsfragen engagieren.

Ja, natürlich. Und ich will meinen Kolleginnen und Kollegen auch keinesfalls unterstellen, dass sie bewusst Gegnerinnen und Gegner der Initiative ausschliessen wollten. In Zukunft sollten wir aber mehr darauf achten, wann ein Anliegen nicht zuletzt durch das Interesse der Medien aus dem Ruder läuft. In einem solchen Fall müssen wir Gegensteuer geben und das Gespräch suchen, damit nicht treue Kirchenmitglieder obdachlos werden in ihrer Kirche.

Sie machen als SP-Gemeinderätin in Bülach selbst Politik. Steht das in Konflikt zur Rolle als Pfarrerin?

Nein. Die Kirchenmitglieder wissen, wo ich politisch stehe, auf Anfrage sage ich immer auch, wie ich abstimme. Ich würde aber nie eine Abstimmungsempfehlung geben in einer Predigt oder eine Fahne an den Kirchturm hängen.

Warum nicht?

Ich will niemanden ausschliessen, weil es nicht einfach nur Schwarz und Weiss gibt. Gerade in meiner Zeit als Polizeiseelsorgerin habe ich viele konservative Menschen getroffen, die grossartige soziale Leistungen erbrachten. Und während der zehn Jahre, die ich im Rotary Club war, habe ich sehr verantwortungsvolle Unternehmer kennengelernt. Natürlich gibt es in der Wirtschaft auch Typen, die über Leichen gehen. Das Gefühl, ideologisch auf der richtigen Seite zu stehen, finde ich aber immer heikel. Auf der linken Seite etwa begegne ich nicht selten grosser Engstirnigkeit und moralinsaurer Missgunst.

Also besser keine Empfehlung der Kirchen zum CO?-Gesetz, über das im Juni abgestimmt wird?

Ich sage ja nicht, dass die Kirche zu politischen Entscheiden nicht Stellung beziehen soll. Für die Bewahrung der Schöpfung einzustehen, gehört zu unseren Grundanliegen. Dennoch sollte man von Fall zu Fall abwägen, wie man sich engagieren will, besonders wenn es um konkrete Gesetzesentwürfe geht. Bei Umweltvorlagen darf man zum Beispiel die damit verbundenen sozialen Fragen nicht ausser Acht lassen.

Die Kirche soll sich im Zweifelsfall lieber zurückhalten?

Wenn ein politisches Engagement in der Kirche zu Gräben führt, müssen wir das Gespräch suchen. Unser Land ist immer dann weitergekommen, wenn Kompromisse möglich wurden. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe für die Kirchen.

Und wie löst sie diese Aufgabe?

Wir sollten Diskussionen anregen, Brücken bauen und gemeinsame Lösungen suchen, Kompromisse ermöglichen. Und dafür Menschen an einen Tisch bringen, die sonst nicht zusammensitzen. Das ist sehr reformiert und ausserdem sehr schweizerisch.

Yvonne Waldboth, 58

Die Theologin hat wahrend zwölf Jahren im Kanton Zürich die Seelsorge für die Polizei und Schutz & Rettung aufgebaut. Seit 2011 ist sie Gemeindepfarrerin in Bül!ch. Dort wirkt sie auch als SP-Gemeinderatin. In der nachsten Folge der Interviewserie zu Kirche und Politik kommt Verena Mühlethaler, Pfarrerin der Zürcher Citykirche Offener St. Jakob, zu Wort.