Die Gegenwart Gottes sucht sie in ihren Mitmenschen

Fromm

Staunen ist für Claudia Kohli das stärkste religiöse Gefühl. Um den Glauben im Alltag zu integrieren, lebt sie mit ihrer Familie bei den Berner Diakonissen.

«Paix, amour, simplicité». Diese drei Worte trägt Claudia Kohli Reichenbach in Form eines Fotos immer bei sich in der Hülle ihres Handys. «Friede, Liebe und Einfachheit», steht über einem Torbogen im Gästehaus der reformierten Communität Don Camillo im neuen­bur­gi­schen Montmirail. Diese drei Wörter begleiten Kohli durch ihren Alltag: Wenn sie vormittags vor Studierenden über die Bedeutung der Spiritualität in der Sterbebegleitung referiert, wenn sie mittags mit ihren drei Kindern am Esstisch sitzt und wenn sie abends um halb zehn nochmals aus dem Haus geht, um mit anderen zu beten.

Es ist neun Uhr. Ein Kursraum im Palliativzentrum des Berner Inselspitals. Die Theologin steht vor ­einer Klasse mit rund 20 Studierenden des Ausbildungslehrganges «Interprofessionelle spezialisierte Palliative Care». Kohli spricht von Nahtoderlebnissen, Jenseitsvorstel­lungen und der Kraft der Spiritualität in schwierigen Lebenssituationen. Immer wieder integriert sie die Erfahrungen der Pflegenden und Ärztinnen in ihre Lektion. Bei ihren Zuhörerinnen und Zuhörern gehört der Tod zum Arbeitsalltag. Kohli arbeitet Teilzeit an der Universität in verschiedenen Weiterbildungsprogrammen im Bereich Seelsorge und Spiritual Care.

Suche nach einer Alternative

In einem Studiengang, den sie zurzeit besonders wichtig findet, werden muslimische und christliche Seelsorgende sowie Hindupriester gemeinsam in der Begleitung von Menschen im Migrationskontext ausgebildet. Daneben forscht Kohli hauptsächlich zu Spiritualität. Nicht nur der wissenschaftliche Aspekt der Spiritualität interessiert die dreifache Mutter, sondern auch die praktische Dimension. «Mir ist es genauso wichtig, dass man sich Gedanken darüber macht, wie man den Glauben im Alltag integrieren kann», erzählt Kohli im Anschluss an die Vorlesung im Tram auf dem Weg in ihre Wohnung.

Inzwischen ist es Mittag geworden. In ihrer Wohnung im Breitenrain-Quartier bereitet Kohli das Mit­tagessen zu. «Wir suchten nach einer alternativen Lebensweise, wo das Gebet den Tagesrhythmus mitbestimmt», antwortet sie auf die Frage, weshalb sie mit ihrer Familie vor zehn Jahren Teil der reformierten Communität Don Camillo im Kan­ton Neuenburg wurde. Seit 2013 lebt die Familie nun in Bern mit anderen Erwachsenen, Kindern und einer Wohngemeinschaft von Studierenden unter einem Dach mit den Berner Diakonissen. 

Reflexion mit einem Lachen

Kohli erzählt am Mittagstisch, dass sich ihr Glaube im Alltag etwa darin äussert, dass sie ihre Kinder mit den Worten «bhüeti Gott» segne, bevor sie in die Schule gehen. In den Gesprächen fällt auf: Diese Frau reflektiert sich und ihre Taten immer wieder – häufig mit einem lauten Lachen. Kohli strahlt Gelassenheit aus und steht mit beiden Beinen im Leben. «Seit ich in der Stadt wohne, ist meine Spiritualität geerdeter.»

Jetzt lebt die Theologin in einem Umfeld, in dem viele Menschen ein gespaltenes Verhältnis zur christlichen Tradition haben und vieles hinterfragen. Aber dennoch spiele Spiritualität für viele eine wichtige Rolle, wenn auch in anderer, ­neuer Form. «Ich binde den Menschen nicht als Erstes auf die Nase, dass ich Theologin bin. Aber ich bin stets von Neuem erstaunt, wie rasch Gespräche an Festen oder auf dem Spielplatz bei existenziellen Fragen landen und so oft unausweichlich bei der Spiritua­lität.»

Als die zwei älteren Kinder zur Tür hereinkommen, geht Kohli ihnen entgegen. Sie umarmt sie und fragt, wie es in der Schule gewesen war. Kohli sucht im Alltag nach «der Schön­heit und Gegenwart Gottes in den Mitmenschen», wie sie es formuliert. Für die ordinierte Pfarrerin ist ihr gelebter Glaube Haltung und Praxis zugleich. Jeden Abend schreibt sie in ihr Tagebuch. «Ich lasse den Tag Revue passieren, und realisiere, dass ich so viele Gründe zur Dankbarkeit habe.» Sie meditiert, übt sich in Stille. Leider nicht mehr so häufig wie früher, fügt 43-Jährige an. Aber dafür lese sie wieder häufiger in der Bibel.

Jüngst hat Claudia Kohli Reichen­­bach einen Lesekreis gegründet. Mit einem Freund, der Musiker und aus der Kirche ausgetreten ist, und einem 95-jährigen Pfarrer trifft sie sich, um die Bibel und Texte von Nietzsche zu lesen. «Wenn Gott in der Bibel  brüllt, irritiert  mich das», sagt Kohli. Doch zugleich fasziniere sie dieses Kantige auch. «Genau darin spüre ich die Kraft der christlichen Tradition, die ich lebe.» In dieser Tradition sei sie gross geworden. Gebet und Kirchenbesuche gehörten zu ihrer Kindheit. «Es war kein enges christliches Milieu, vielmehr war Glaube Teil der Muttermilch, die ich aufsog.» Die Kinder spielen inzwischen im Wohnzimmer und tauschen Panini-Bilder.

Hühnerhaut in der Kirche

Es ist halb neun am Abend, als Kohli die Wohnung nochmals verlässt.  «Einen wichtigen Teil in meiner spiri­tuellen Praxis nimmt das Gebet ein», sagt sie auf dem Weg zur nahen Kirche. «Ich bete oft unterwegs, danke für das Glück, denke an Menschen, die in einer schwierigen Situation sind.» Sie liebt aber ebenso das ritualisierte Gebet, die gemeinsame liturgische Feier. Zusammen mit anderen betet, singt und schweigt Kohli heute Abend in der Berner Johanneskirche. Gemein­sam brechen sie das Brot und beten: «Dein sind wir in Zeit und Ewigkeit.» Bei dieser Textstelle bekomme sie immer Hühnerhaut, sagt Koh­li auf dem Rückweg. «Die Intensität von Leben, Tod und Auferstehung in diesem Stück Brot, diese Dramaturgie im Abendmahl fasziniert mich immer von Neuem.»

Vor der Wohnungstür hält Kohli einen Moment inne. «Das stärkste religiöse Gefühl ist für mich das Staunen.» Diese Situationen im Leben, in denen sie merke, dass Worte überflüssig seien. Der wohl inten­sivste Moment sei die Geburt ihrer ersten Tochter gewesen. «Das war absolut aussergewöhnlich. Ich dach­te damals: So muss Sterben sein. Und realisierte, ich bin in etwas Grosses eingebunden, das viel stärker ist als ich.»