Mit Glauben, Hoffnung und Zitronencake

Heilsarmee

Ein Malatelier, eine kalte Nacht an der Langstrasse, ein Mittagstisch: drei Orte, an denen die Heilsarmee in Zürich ganz praktische Hilfe anbietet und Zuversicht schenkt. 

Im Atelier riecht es an diesem Montagnachmittag nach Kaffee, Holzleim und Acrylfarbe. Farbtöpfe, Pinsel, Stanzmaschinen, Joghurtbecher mit Wasser stehen auf den Tischen. Eine Bewohnerin bemalt sorgfältig ein Holzblatt. 

«Ich mag Gelb», sagt sie, «das ist wie Sonne, wenn alles andere grau ist.» Nebenan klackert die Stanzmaschine – laut, rhythmisch, fast tröstlich. Auf der Werkbank trocknen bunte Gartenzwerge mit gepunkteten Mützen, daneben liegen filigrane Papierblätter, die später das Treppenhaus schmücken sollen. 

«Hier zählt nicht das Resultat, sondern das Dabeisein», sagt Martina Meyner, Leiterin des Bereichs Wohnen und Begleiten im Hope House der Heilsarmee an der Ankerstrasse 33 mitten im Kreis 4. «Manche kommen aus eigenem Antrieb täglich, andere brauchen mehr Motivation und Unterstützung, um einer Tagesstruktur nachzugehen.» 

Von der Asylunterkunft bis zur Brockenstube

Die Heilsarmee ist mit 1,8 Millionen Mitgliedern in 134 Ländern weltweit aktiv. Seit 2023 wird sie von General Lyndon Buckingham aus Neuseeland geführt. In der Schweiz zählt die «friedlichste Armee der Welt» rund 3500 Soldatinnen und Soldaten, über 100 sind Offiziere mit theologischer Ausbildung. Offiziere widmen sich dem Dienst und verpflichten sich zu einem bescheidenen Lebensstil und dem Verzicht auf Alkohol, Tabak, Drogen, Pornografie und übermässige Medikamenteneinnahme. Mit einem Umsatz von 217 Millionen Franken im Jahr 2024 ist die als Stiftung registrierte Freikirche in der Schweiz das grösste private Sozialwerk auf christlicher Basis und erfüllt zahlreiche Leistungsaufträge mit Städten und Gemeinden. So betreibt die Heilsarmee unter anderem Kollektivunterkünfte für Migranten, Unterkünfte für Obdachlose und vor allem in der Westschweiz auch Alters- und Pflegeheime. Bekannt ist die Freikirche auch für ihre Brockenstuben, mit dem Erlös werden soziale Angebote unterstützt. Sozialdiakonisch aktiv sind auch die einzelnen Korps unter anderem mit Lebensmittelabgaben und Familienberatung. 

Eine Bewohnerin, die regelmässig hier arbeitet, ist Petra Saxer, 57. Ihr Blick ist wach, die Hände zittern leicht. «Ich war über hundert Mal in der Psychiatrie», sagt sie. «Mehr als die Hälfte meines Lebens in Institutionen. Hier habe ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, dass jemand zuhört.» 

Sie hilft in der Reinigung, am Nachmittag unternimmt sie viel auf eigene Faust. Sie wünscht sich eine Wohnform mit mehr Selbstständigkeit. «Ich möchte wieder kochen, selber einkaufen und trotzdem hierherkommen, wenn ich will.»

Während die Fassade des Hope House wie ein sichtbares Zeichen der Hoffnung im Strassenraum grün gestrichen ist, dominieren im Inneren warme Farben und Licht: rosarote Wände, helles Holz. 

Verantwortung, Schritt für Schritt

In den oberen Stockwerken wohnen aktuell 33 Menschen mit psychischen Diagnosen oder Suchterkrankungen. Das Haus gehört zum Sozialwerk der Heilsarmee Wohnen und Begleiten Zürich und wurde vor fünf Jahren eröffnet. Es vereint kirchliches Werk und Sozialwerk unter einem Dach. 

«Einige Leute kommen mit zwei Taschen», erzählt Martina Meyner. «Sie tragen kaum etwas bei sich und fangen hier ganz neu an.» Umso wichtiger sei, dass die Zimmer zweckmässig, aber warm und persönlich seien. 

Alkohol ist im Haus nicht grundsätzlich verboten: Bier und Wein sind erlaubt, Hochprozentiges jedoch nicht. Martina Meyner spricht von Schadensminderung statt Kontrolle. «Wir thematisieren regelmässig den Konsum, aber wir bestrafen niemanden», sagt sie. «Es geht darum, Verantwortung zu üben, Schritt für Schritt.»

Diese Haltung prägt den Alltag im Hope House: Struktur statt Strenge, Begleitung statt Kontrolle. Die Bewohner nehmen an Aktivitäten teil, die Tagesrhythmus und Halt geben, kochen, putzen, arbeiten im Atelier, führen Gespräche mit Fachpersonen und essen gemeinsam. Wer stabiler wird, wechselt in eine andere Wohnform für Menschen mit leichterem Begleitbedarf; Wohnen und Begleiten Zürich bietet beim Helvetiaplatz zusätzlich 65 Wohnplätze sowie 15 Plätze in Zweier-Wohngemeinschaften an.

Das Wohnangebot wird im Rahmen eines Leistungsvertrags vom Kanton Zürich mitfinanziert. Der Zuschuss richtet sich nach dem individuell erhobenen Betreuungsbedarf. Vor allem die Nachfrage nach Wohnplätzen ist hoch: Psychische Belastungen nehmen zu, bezahlbarer Wohnraum fehlt. Das Angebot wird laufend ausgebaut und umfasst mittlerweile drei abgestufte Wohnformen vom betreuten bis hin zum begleiteten Wohnen. 

Spiegel des gesellschaftlichen Drucks

Schweizweit betreibt die Heilsarmee über 150 Standorte mit 79 sozialen und diakonischen Angeboten: Beratungsstellen, Notschlafstellen, Besuchsdienste, Quartiertreffs und Brockenhäuser. In Zürich spiegelt sich der gesellschaftliche Druck besonders deutlich wider: steigende Mieten und volle Kliniken bei zunehmender Einsamkeit und zu wenigen Orten, an denen Menschen am Rand Halt finden.

Meyner steht am Fenster, draussen nieselt es. «Heilsarmee, das klingt für viele nach alter Trompete. Aber hier bedeutet es: hinsehen, wo andere wegschauen. Ganz ohne Heldenpathos», sagt sie. 

Heilsarmee, das klingt für viele nach alter Trompete. Aber hier bedeutet es: hinsehen, wo andere wegschauen. Ganz ohne Heldenpathos.
Martina Meyner, Leiterin Wohnen und Begleiten im Hope House

Dienstagnacht, nur wenige Strassen weiter. Das Neonlicht der Bars an der Langstrasse flackert blau und pink über das nasse Pflaster. 

Zwischen den Schaufenstern stehen Frauen in Gruppen, nach Nationen sortiert wie unsichtbar abgesprochen: Brasilianerinnen beim Hauseingang, Rumäninnen an der Ecke, zwei Frauen aus Westafrika eng aneinandergelehnt, ihre kurzen Jacken sind zu dünn für die Kälte. 

Dann taucht Conny Zürrer Ritter auf. Sie trägt eine wetterfeste Jacke mit dem roten Schild der Heilsarmee, das so rot ist wie ihre Haare, ihr Markenzeichen. In zwei Taschen hat sie belegte Brote und Kuchenstücke dabei, die Freiwillige vorbeitet haben. 

Als sie die Frauen anspricht, wird sie angelächelt. Eine ruft ihren Namen, eine andere kommt näher, sie umarmen sich kurz. 

Rahab: Unterstützung im Sexgewerbe

Seit 1998 begleitet Zürrer Ritter im Auftrag der Heilsarmee Menschen im Sexgewerbe. Das Projekt heisst Rahab, nach der biblischen Frau, die Fremden Schutz bot. «Der Name steht für Vertrauen, für Mut.»

Das kleine Team besteht aus zwei Sozialarbeiterinnen, einer Pflegefachfrau und einigen Freiwilligen. Jede Woche besuchen sie Salons, Studios und Wohnungen, bringen Informationsmaterial, Kondome, Hygieneartikel. Zum Angebot gehört auch eine niederschwellige Sozialberatung: Aufenthalt, Finanzen, Gesundheit und neue Perspektiven. Wohnungssuche sei ein grosses Thema und auch die Unterstützung bei der beruflichen Neuorientierung. 

Das Team ist zweimal in der Woche so wie heute auf der Gasse unterwegs. «Viele wollen kein grosses Gespräch, schätzen aber die Begegnung», sagt Zürrer Ritter. «Manche nur ein Stück Kuchen.» Besonders der Zitronencake ist begehrt. Einige Frauen bitten gleich um zwei Stücke. «Der geht immer zuerst weg», lacht die Sozialarbeiterin. 

Andere erzählen von Freiern, die drohen, von Vermietern, die jeden Sonntag Bargeld verlangen. Einige schweigen. Derzeit zeige die Polizei viel Präsenz, sagt Zürrer Ritter. Das habe auch mit der sich ausbreitenden Drogenszene zu tun, Crack bringe eine neue Dynamik. 

Manche Prostituierte arbeiten ohne Bewilligung, sie haben grosse Angst und reagieren scheu, wenn Medien dabei sind. Das Gewerbe um die Langstrasse hat sich verändert. Viele Liegenschaften sind verkauft oder aufgewertet worden. «Die Mieten steigen, Räume verschwinden und mit ihnen auch die Schutzräume», sagt Zürrer Ritter. 

Ausstehende Löhne und Schlaflosigkeit

Umso wichtiger ist das Nachtcafé an der Müllerstrasse, das die Heilsarmee betreibt und in das Zürrer Ritter die Frauen einlädt, denen sie auf ihrer Runde begegnet. Es ist von Dienstag auf Mittwoch von 23 bis um 4 Uhr geöffnet. 

Kerzen flackern. Zwei Frauen wärmen sich die Hände an Teetassen. Eine Frau lächelt kurz. Dann verzieht sich ihr Gesicht sorgenvoll. Sie erzählt von ausstehenden Löhnen und Schlaflosigkeit. 

Aber auch der Glaube ist nicht selten Thema. «Wenn wir uns als christliche Organisation vorstellen, wollen viele mehr wissen», erzählt Zürrer Ritter. Für die Heilsarmee spiele es keine Rolle, woher jemand komme und was jemand glaube, das Angebot sei für alle offen. 

Bei den Gängen isst man immer von aussen nach innen, Messer rechts, Gabel links.
Dora Kunz, Leiterin des Mittagstisches und Offizierin der Heilsarmee

Manchmal bitten Frauen darum, für sie zu beten. Zürrer Ritter sammelt die Anliegen und gibt sie anonym einer Gebetsgruppe der Freikirche weiter: die kranke Mutter in der Heimat, der drohende Gerichtsentscheid, der verlorene Pass. 

Neben der Gassenarbeit gehören auch Mittagstische für Bedürftige zu den festen Angeboten der Heilsarmee in der Schweiz. Einer davon ist der im Hope House – er ist gross, zentral gelegen und wird stark frequentiert. An diesem Mittwoch zieht schon um 10 Uhr der Duft von Kürbis, Muskat und Pouletgeschnetzeltem durch den Saal im Erdgeschoss.

Zweimal die Woche serviert die Heilsarmee im Imbiss Hope rund 80 bis 100 Gästen eine warme Mahlzeit und gibt Lebensmittel ab, Brot, Milch, Pasta, Äpfel. Möglich machen das Hilfsangebot die über 30 Freiwilligen und Partnerorganisationen wie das Chrischtehüsli, Netz4 und die Schweizer Tafel.

Bis zu 40 Nationalitäten am Tisch

Kurz vor zwölf ist alles bereit. Vor der Tür hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Alfredo, der Allrounder, prüft ein letztes Mal die Tische. Bevor die Gäste kommen, zeigt die Leiterin des Mittagstisches und Offizierin der Heilsarmee, Dora Kunz, einem neuen Helfer, wie man das Besteck richtig legt: «Bei den Gängen isst man immer von aussen nach innen, Messer rechts, Gabel links.» Eine kleine Geste, die viel verrät: Auch wer wenig hat, soll hier mit Würde essen. 

Um Punkt zwölf öffnet Alfredo die Tür. Männer und Frauen mit Plastiktüten, Rentner, Menschen ohne Wohnung stürmen hinein. Bis zu vierzig Nationalitäten sind es. 

An einem kleinen Pult beim Eingang sitzt Werner, pensionierter Freiwilliger und ehemaliger Marketingleiter. Er nimmt den Unkostenbeitrag von drei Franken entgegen. «Na, Hans, alles gut?» – «Heute Kürbissuppe, gell?» Wer kein Geld hat, darf trotzdem hinein. «Das Leben ist teuer genug», sagt er und drückt ein Auge zu. Menschen etwas Gutes tun, denen es schlechter geht, das sei seine Motivation. 

Auch Karl, seit zwei Jahren pensioniert, kommt regelmässig – obwohl er mit seiner Rente etwas besser dasteht als viele andere hier. «Ich habe acht Jahre in der Gegend gewohnt», sagt er. «Jetzt nehme ich den Weg von Rüti auf mich, einmal pro Woche. Ich bin hier unter Leuten. Das tut mir gut.» 

Gegessen wird im grossen Kirchenraum, wo sonntags die Gottesdienste und mittwochs Orchesterproben stattfinden. Jeder Platz ist jetzt besetzt. Dora Kunz tritt ans Mikrofon neben dem schlichten Holzkreuz. In der Hand hält sie einen kleinen Kaktus. «Manche denken, ein Kaktus sei pflegeleicht, aber oft geht er schnell ein», sagt sie. «Seine Dornen saugen die Feuchtigkeit aus der Luft, damit er überlebt. Vielleicht sind wir Menschen manchmal auch so. Mit Dornen, die verletzen können, aber auch mit der Fähigkeit, Leben zu speichern.»

Einige nicken. Andere schauen auf ihre Teller. «Auch Kakteen blühen», sagt sie. «Und tragen Früchte. So ist es auch mit uns.» Dann betet sie: «Jesus Christus, du bist das Wasser des Lebens. Du siehst uns mit unseren Stacheln und du liebst uns trotzdem. Segne unser Essen und unsere Gemeinschaft. Amen.» Ein leises Amen geht durch den Raum. Dann klappern die Löffel. 

Mittagstisch als Form von Kirche

Standortleitende des Hope House sind Markus und Iris Muntwiler, beide Offiziere der Heilsarmee. Er ist auch am Mittagstisch zugegen, redet mit den Leuten. Muntwiler war im ersten Berufsleben Agronom. Mit 48 studierte er auf dem freikirchlichen Chrischona-Campus christliche Leiterschaft und praktische Theologie. 

Der Glaube trägt ihn – wie alle Offiziere der Heilsarmee, die sich zu einem einfachen Lebensstil ohne Alkohol verpflichten. «Auch der Mittagstisch ist eine Form von Kirche», sagt er. «So wie in der Apostelgeschichte: Gemeinschaft, Essen, Gebet, Wort.» 

Als Missionar sieht er sich nicht, sondern als Gastgeber. «Wir drängen niemandem den Glauben auf. Aber wenn jemand fragt, warum wir das tun, erzählen wir von der Botschaft des Evangeliums.» Es kommt immer wieder vor, dass Menschen anderen Glaubens sich für das Christentum interessieren. So wie der Helfer aus Iran, der gerade eine Tasche für die Lebensmittelabgabe füllt. Er ist Muslim und besucht nun den Bibelkurs der Heilsarmee. 

Generell stehen wir in einem Spannungsfeld zwischen dem, was wir aus der Bibel als gut und heilsam erkennen, und der Realität, in der Menschen stehen.
Markus Muntwiler, Offizier der Heilsarmee

In der Freikirche verdienen alle Offizierinnen und Offiziere bis hinauf zum CEO in etwa gleich viel. Das sei ein Kontrast zu einer Gesellschaft, in der wenige sehr viel haben und viele wenig. «Wir sind solidarisch miteinander und leben eine Form von Gleichwertigkeit, wir begegnen einander auf Augenhöhe.» 

Gleichzeitig gerät das freikirchliche Werk immer wieder in die öffentliche Diskussion, wenn es etwa um den Umgang mit Homosexualität geht. «Generell stehen wir in einem Spannungsfeld zwischen dem, was wir aus der Bibel als gut und heilsam erkennen, und der Realität, in der Menschen stehen», sagt Muntwiler. «Die Schlüssel sind Barmherzigkeit und Akzeptanz. Wir sind für alle Menschen da», sagt Muntwiler. 

Dieser Geist zieht sich wie ein roter Faden durch alle drei Schauplätze: Das Wohnen, die Gassenarbeit und der Mittagstisch zeigen eine Heilsarmee, die weit mehr ist als Blechmusik und Kollekte zu Weihnachten. Vielmehr steht sie ein für Menschlichkeit – mitten in einer Gesellschaft und einer Stadt, in der die sozialen Gräben immer weiter zunehmen.