Der Pfarrer mit Blut an den Händen

Ausstellung

Gewiefter Stratege oder ungehobelter Mörder? Protestant oder Katholik? Jörg Jenatsch (1596–1639) hat viele Gesichter. Das Rhätische Museum zeigt sie.

Jörg Jenatsch schaut mich an. Braune Augen, grobes Gesicht, prägnante Nase, klar geformte Lippen. Er ist ein ganz anderer Mensch als auf dem einzigen erhaltenen Gemälde seiner Zeit, das erstmals in Chur ausgestellt wird: Dort hat er eine fliehende Stirn, Schnauz, Kinnbart und einem prunkvollen roten Mantel. Mein Gegenüber hingegen trägt keinen Mantel, besteht nur aus Kopf. Ich schaue auf die plastische Rekonstruktion von Jörg Jenatschs Schädels, der 2012 – bereits zum zweiten Mal – in der Churer Kathedrale ausgegraben wurde.

Schillernd. Oder hat man da einen falschen Jenatsch ausgegraben? «Die Chance, dass dies Jörg Jenatsch war, ist etwa zwanzig Mal grösser als die, dass er es nicht ist», sagt Ausstellungskurator Beat Gugger leicht verklausuliert. Er beruft sich unter anderem auf eine DNA Analyse und Axtschläge im Schädel.

Aber genau diese Frage und ihre komplizierte Antwort sind typisch: Wann immer man nach Jörg Jenatsch fragt, stösst man auf einen Wald von Unklarheiten, Vermutungen und Ambivalenzen. Dieses Dickicht hat das Rätische Museum nicht gelichtet. Aber es hat eine Ausstellung gemacht, bei der in jedem Raum eine andere Facette der vielleicht schillerndsten Bündner Persönlichkeit gezeigt wird.

Seine Prominenz verdankt Jenatsch dem Zürcher Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer. Der schrieb 1876 den Roman «Jürg Jenatsch» und machte aus dem weitgehend unbekannten Söldnerführer des Dreissigjährigen Krieges einen schlitzohrigen Bündner Freiheitskämpfer. Der Roman war ein Riesenerfolg. Aber einiges entsprach nicht der historischen Wahrheit. Etwa, dass er mit der Tochter Planta, deren Vater er ermordete, eine Liebesbeziehung hatte und sie später seine Mörderin wurde. C. F. Meyer über seinen Helden: «Das war nur ein Schelm, und ich habe aus ihm eine Persönlichkeit gemacht.»

Auch Ausstellungskurator Beat Gugger ist sich nicht sicher, was für eine Persönlichkeit Jörg Jenatsch war. «Im 19. Jahrhundert versuchte man, aus ihm einen Helden zu machen», sagt er, «aber Jenatsch eignet sich gar nicht als Held, sondern er ist total ambivalent.»

Der protestantische Pfarrer wirkte erst ein Jahr in Scharans, als bereits Blut an seinen Händen klebte. Beim Thusner Strafgericht beteiligte er sich an der Folterung und Tötung des katholischen Erzpriesters Nicolo Rusca. Er musste Scharans verlassen, zog in die Nähe von Sondrio, entkam knapp dem Veltliner Protestantenmord und ermordete im Gegenzug den Führer der spanisch-katholischen Partei in Graubünden, Pompejus Planta. Es folgen Duelle, Kämpfe, Scharmützel. «Ich weiss von keiner anderen Figur in der Geschichte, bei der ein Pfarrer derart zum Haudegen mutierte», sagt Beat Gugger.

Rätselhaft. Ambivalent erschien im Rückblick auch Jenatschs Konversion zum Katholizismus. Geschah sie aus poli­tischer Taktiererei, oder war es ein Glaubensakt? Jenatschs Familie jedenfalls blieb grösstenteils protestantisch. «Es haben fast nur Protestanten über Jenatsch geschrieben», sagt Gugger, «und die deuten seine Konversion eher als Makel.» Er selbst ist sich da nicht so sicher. Im Zusammenhang mit der Ausstellung stiess Gugger auf eine Bibel, in der in Jenatschs Handschrift theologische Motive für den Übertritt stehen. Und bei der Ausgrabung in der Kathedrale fand man auf dem Skelett von Jenatsch ein Skapulier, den Teil einer Ordenstracht. «Warum trägt er das? Und warum wurde er in der Kathedrale beerdigt?», so Gugger.

Es bleiben also Fragen um Jenatsch, nicht zuletzt die, wer ihn ermordete. Besucher der Ausstellung sollen darüber abstimmen, nach Sichtung der Zeugenaussagen, und das Museum wird den Mörder dann – mit einem Augenzwinkern – publizieren. Sicher wird das mehr Klarheit in die schillernde Geschichte von Jörg Jenatsch bringen.

«Calling Jenatsch» im Museum

Die Ausstellung im Rätischen Museum läuft bis zum 13. August 2017. Sie ist geöffnet von Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr. Öffentliche Führungen gibt es an je einem Dienstag im Monat, mittags und abends.

Info: www.rm.gr.ch