Glaube 08. Oktober 2025, von Tilmann Zuber/kirchenbote.ch

Niklaus Brantschen: So schmeckt das Leben

Schamanismus

Niklaus Brantschen, Jesuit und Zen-Meister, sucht in seinem neuen Buch die Wurzeln der Spiritualität und der Religionen. Er findet sie im Schamanismus.

Mit dem Buch «Du bist die Welt. Schamanischer Weisheit auf der Spur» kehrt Brantschen zu den Ursprüngen der Religiosität zurück. Seine schamanische Reise beginnt mit persönlichen Erfahrungen: Ein Besuch bei seiner Nichte, die sich selbst scherzhaft als «Kräuterhexe» bezeichnet, führt ihn zu schamanischen Praktiken und Denkweisen. Diese öffnen ihm den Zugang zu tiefen Einsichten über die Beziehung zur Natur, zu Mitmenschen und allem Lebendigen. Am Podcast-Festival von «RefLab» stellte Niklaus Brantschen in Zürich seinen Weg zum Schamanismus vor.

Urquelle der Spiritualität

Brantschens Buch erscheint in einer Zeit, in der Mobilität, Konsum und Digitalisierung die Entfremdung von der Natur vorantreiben. Brantschen bringt in diese Debatte einen Ansatz ein, der archaische Spiritualität mit ökologischer Verantwortung und globaler Ethik verbindet. 

Sein Vorstoss überrascht nicht: Seit Jahren vermittelt der Jesuit zwischen Zen und Christentum. Doch mit «Du bist die Welt» geht er einen Schritt weiter. Brantschen versteht Schamanismus nicht als Glaubenssystem, sondern als Lebenshaltung – verwurzelt in Respekt vor allem Lebendigen, vor Pflanzen, Tieren und dem Kosmos. Angesichts der Kirchenkrise fordert er, die vorreligiösen Wurzeln wiederzuentdecken. «Priester oder Priesterinnen sind Menschen, die heilend wirken und ein Segen für andere sind», erklärte er der Kulturjournalistin Johanna di Blasi auf der Bühne des «RefLab»-Podcast-Festivals.

Wer so achtsam lebt, öffnet sich auch für das Leiden der Erde und ihrer Geschöpfe.
Niklaus Brantschen

Seine Reise zu den Wurzeln beginnt in Täsch im Wallis, wo seine Urgrossmutter noch die heilende Kraft des Magischen und Mystischen kannte. «Dieses Wissen wurde nicht von der Kanzel gepredigt, sondern von Generation zu Generation weitergegeben», sagt Brantschen. 

Die Kunst der Weisheit

Das Wort «Schamane» stammt aus der ostsibirischen Sprache und bedeutet «jemand, der weiss», erklärt di Blasi. Doch Wissen ist für Brantschen mehr als Faktenanhäufung. «Weisheit bedeutet, zu wissen, wie das Leben schmeckt», sagt er. Weisheit und Schmecken – im Lateinischen «sapientia» und «sapere» – gehören zusammen. Der Geschmack des Lebens zeigt sich in einfachen Dingen: Pellkartoffeln mit Hüttenkäse oder barfuss über eine Blumenwiese zu laufen. 

Brantschen lädt ein, die Einheit mit Pflanzen, Tieren, den Elementen und dem Kosmos zu spüren. «Geerdete Spiritualität ist nicht abgehoben, sondern fliesst mit dem Atem und bleibt wachsam aufs Leben.» Wer so achtsam lebt, öffnet sich auch für das Leiden der Erde und ihrer Geschöpfe, ist Brantschen überzeugt. Weisheit und Mitgefühl wachsen miteinander. «Ein spiritueller James Bond kann niemandem helfen», sagt er. Oft seien es Menschen, die selbst Schweres durchlitten haben, die andere verstehen und heilen können. 

Spuren im Auftritt Jesu und bei Franziskus

In der Bergpredigt Jesu, in seinen Heilungen und Betrachtungen über die Lilien auf dem Feld, erkennt Brantschen eine tiefe Verbundenheit mit der Natur. Diese Tradition lebe in der franziskanischen Spiritualität, etwa im Sonnengesang, weiter. 

Brantschen wirft der Kirche vor, ihre «schamanischen Wurzeln» oft verteufelt zu haben. So habe sich ein rationalistisches, wortfixiertes Christentum entwickelt, das heute kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorhole. «Wie soll das Christentum Inspiration finden, wenn es die Welt nicht ernst nimmt?», fragt Brantschen. «Wer den kirchlichen Jahreslauf, die Lichtfeste und Ähnliches ignoriert, verspielt die grosse Chance, Spiritualität im Leben zu verankern.» Am schlimmsten sei es, sich dagegen abzuschotten, indem man den Schamanismus als esoterisch abtut und glaubt, sich damit der Notwendigkeit zu entziehen, sich auf die Welt einzulassen.

Niklaus Brantschen, «Du bist die Welt», 2025, Patmos-Verlag