Schwerpunkt 07. Januar 2020, von Marius Schären

«Moralische Relikte müssen weichen»

Ewig leben?

Stefan Lorenz Sorgner fordert, dass individuelle Wünsche zur Verbesserung des Lebens in der Gesellschaft anerkannt werden.

Er gilt in der Philosophie als Experte für Trans- und Posthumanismus. Doch dass er ewig leben möchte, sagt der Deutsche Stefan Lorenz Sorgner nicht: «Wer davon ausgeht, dass ein ewiges, diesseitiges Leben möglich ist, hat sich als ernst zu nehmender Philosoph disqualifiziert.» Ein langes Leben hingegen strebt er an, und entsprechende Vor­schläge hat er auch.

Ein zentrales Anliegen von Sorgner ist eine neue Basis für mora­lische Betrachtungen. Die persön­li­chen Bedürfnisse sollten stärker gewichtet werden, fordert er. «Solange unsere Zielsetzungen anderen Personen keinen Schaden zufügen, sollte das Recht bestehen, auch auf die neuesten Techniken zugreifen zu können.» Denn unser Leben werde lebenswerter, wenn wir unsere Wünsche, Triebe und Bedürfnisse realisieren könnten.

Neue moralische Bewertung

Als ein Beispiel nennt er die Fortpflanzungstechnik. Das Recht, den Partner oder die Partnerin aus­zu­wählen, bestehe ja bereits. Für den Philosophen müsste das konsequent weitergeführt werden: «Genauso sollten wir das Recht haben, befruchtete Eizellen bei In-vitro-Fer­tilisation und Präimplantationsdiagnostik auswählen zu dürfen.» Oder prinzipiell gesagt: Prozesse mit gleichen Strukturen sollten auch moralisch gleich bewertet werden.

Dazu müssten aber Relikte weichen, sagt Stefan Lorenz Sorgner. «Jeder Mensch hat ganz eigene Bedürfnisse für ein erfülltes Leben.» Demzufolge dürfte die Entscheidung nicht mehr von Politikern, religiösen Autoritäten oder Machthabern getroffen werden. Sorgner ortet im Bereich Moral noch viele Mechanismen der Bevormundung: «verkrustete Überbleibsel der westlichen Kulturgeschichte», wie er fin­det. Die Anerkennung der Tatsache, dass «das Gute» vielfältig sei, müsse weiter ausgebaut werden.

Für digitale Überwachung

Unter den Techniken für die «Verlängerung der Gesundheitsspan­ne» nennt der Philosophieprofessor drei Hauptkategorien: die Gentechniken, die Implantation von Chips in den Körper und die Digitalisierung von Persönlichkeit. Die Digitalisierung und vor allem das «Mind Uploading» sieht er aber als vorläufig unrealistisch an. Für wirklich relevant hält Sorgner zurzeit nur die beiden ersten Möglichkeiten.

Die Gefahr, dass Reiche bevorteilt würden, weil sie sich mehr leisten könnten, sieht Sorgner nicht. Er verweist auf die Geschichte: Vor zwei Jahrhunderten habe die ab­­­-
so­l­ute Armutsrate weltweit etwa 90 Pro­zent betragen – heute noch 10 Prozent. Und in Europa sei es «entscheidend, dass die öffentlichen Krankenkassen gefördert werden». Dies allenfalls zum Preis einer «umfassenden digitalen Überwachung». Denn die Entwicklung neuer Technologien sei teuer. Umfangreiches Datenmaterial dagegen könnte den Fortschritt begünstigen.

Insgesamt würden die Entwicklungen dem Menschen vermehrt vor Augen halten, dass wir uns le­dig­lich «graduell» von anderen Lebewesen unterscheiden – aus dem Grund eben, weil wir ohne die Viel­falt an Erweiterungen und Hilfsmitteln kaum weiter kämen. «Das führt zu einer neuen Bescheidenheit des Menschen», sagt Stefan Lorenz Sorgner.

Stefan Lorenz Sorgner, 46

Der Philosoph studierte in Grossbritannien und Deutschland. Bis 2016 lehrte er Medizinethik in Nürnberg, seither an der John Cabot University in Rom. Er nennt seine Position «metahumanistischen Perspektivismus», was Posthumanismus und Transhumanismus umfassen soll.