Gesellschaft 24. April 2024, von Isabelle Berger, Marius Schären

Ratte der Lüfte und Botin des Frühlings

Die Taube

Sie ist eines der ältesten Haustiere und Symbol für den Heiligen Geist. Heute wird sie oft als Plage empfunden – und im Umgang mit Stadttauben gilt die Stadt Bern als Vorbild.

Einige Berner Stadttauben haben eine exklusive Wohnung: die Nydeggkirche, die an der Spitze der Aare­schlaufe steht. Zur Wohnung der Vögel führt Meret Huwiler.  Die 30-jährige Biologin arbeitet seit drei Jahren als Kuratorin im städtischen Tierpark Bern. Sie ist hauptverantwortlich für Affen, Huftiere, Käfer und Vögel und deshalb auch für die Umsetzung des städtischen Taubenkonzeptes. 

Zu erreichen ist die Bleibe der Tiere durch den Kirchenraum zur Orgel hinauf, weiter durch eine Tür über steile Stufen im Halbdunkel, noch eine Klapptür, und der dämmrige Raum des Dachbodens über dem Kirchenschiff eröffnet sich, vereinzelt erhellt durch kleine Fenster.

Das Hohelied auf die Treue

An der Wand am anderen Ende des Raums steht eine weisse Kiste aus Holz, so gross wie ein kleiner Schiffscontainer. Grösse und Gewicht des 2022 installierten Objekts sind genau berechnet, damit die bloss in die Kirche gehängte Decke nicht überlastet wird. «Es ist ein spezieller Taubenschlag hier in der Nydeggkirche», sagt Meret Huwiler. 

Fotograf Andrew Garn

Der preisgekrönte Fotograf Andrew Garn beschäftigt sich seit 2008 mit den Tauben von New York. Bald erscheint die zweite Ausgabe seines Fotobands «The New York Pigeon. Behind the Feathers». Darin inszeniert er die von vielen verachteten Tauben wie Models, um ihre Pracht zu zeigen. Das Buch erscheint im Verlag Powerhouse Books und ist ab Juni erhältlich.

Zuvor gab es an dieser Stelle nur einen alten, kleinen und verwinkelten Taubenschlag. Der neue ist den Bedürfnissen der Tiere angepasst. Durch eine Tür in der grossen Kiste gelangt man in ein kleinen Vorraum.

Futter, Nistschalen, Attrappeneier, Putzutensilien, Unterlagen für die Statistik: Alles liegt hier ordentlich bereit. Von hier aus führen ein Fenster und eine Tür in den Vogelschlag. Regalartige Fächer zum Nisten sind auf der einen Seite, zwei längs verlaufende Holzstangen als Sitzgelegenheit auf der anderen angebracht. Aber jetzt sind alle Tauben ausgeflogen. Nur ein paar Federchen und Kot liegen da.

Ein symbolträchtiger Vogel 

Umsorgt in Schlägen wurden Tauben bereits im Altertum in Vorderasien. Taubenschläge waren gar ein Prestigeobjekt und wurden prunkvoll verziert. Die Turteltaube galt als Botin des Frühlings, Symbol der Erneuerung und Fruchtbarkeit.

Man glaubte, der Vogel bringe die Kinder, die er als Keim in sich trage. Wegen ihrer lebenslangen Partnerschaft galt die Taube zudem als Symbol der Liebe. Im Hohelied in der Bibel werden die Augen der Geliebten mit Tauben verglichen. Weil Tauben als treu gelten, werden sie auch heute noch gerne an Hochzeitsfeiern fliegen gelassen.

Wir haben nicht die volle Kontrolle. Die Tauben gehö­ren niemandem. Sie ent­scheiden selber, welche An­gebote sie an­nehmen.
Meret Huwiler, Kuratorin Tierpark Dählhölzli

Das ist aber längst noch nicht alles an positiver Symbolik des Tieres, wie Karin Schneider in ihrem Buch «Tauben. Ein Porträt» auseinandersetzt. Lebensgeist, Lebensweisheit, Reinheit, Unschuld, Sanftmut, Heilung, Mütterlichkeit, Verführung, Weiblichkeit, Keuschheit: All das verbanden die Menschen jahrtausendelang mit dem Vogel.

Im Altertum etwa wurden Tauben verehrt als Begleiterinnen der semitischen Göttin Astarte und der babylonischen Göttin Ischtar. Später dann als Beschützerinnen von Ischtars Nachfolgerinnen, der griechischen Aphrodite und der römischen Venus. Ischtar vereinte in sich die grösstmöglichen Gegensätze, so Krieg und Liebe sowie Morgen und Abend. So wurde die Taube auch ein Symbol für die Harmonie aus Dualität, etwa in der jüdischen Religion mit dem Ölzweig auf Noahs Arche.

Zur Friedenstaube wurde der Vogel erst 1949: in Pablo Picassos ikonischem Werk zum Weltfriedenskongress. Picasso, Taubenliebhaber, der auch Vögel besass, stellte die Tiere immer wieder dar. Seine bekannteste Friedenstaube, aus wenigen Strichen und mit Ölzweig im Schnabel, schuf der Maler ein Jahr nach dem Kongress.

Falsche und echte Eier

Die Tauben in der Nydeggkirche tragen allerdings selten Zweige. «Sie nisten sehr schlicht, ein Fenstersims reicht eigentlich», sagt Meret Huwiler. Im Taubenschlag stehen simple Kartonschalen zur Verfügung. Zweimal in der Woche werden sie von Mitarbeitenden kontrolliert, die befruchtete Eier gegen solche aus Gips tauschen. Das ist wichtig, um die Population nicht anwachsen zu lassen. Stadttauben könnten bis zu zwölfmal pro Jahr je zwei Eier ausbrüten. Die Mitarbeitenden füllen das Futter nach und putzen die insgesamt acht städtischen Taubenschläge.

Sämtliche Tauben eines Schlags werden beringt und einmal im Jahr gegen die Taubenpest geimpft. Und halbjährlich sterilisieren Tierpark-Mitarbeitende die männlichen Tauben, die neu den Schlägen zufliegen, rund 100 jedes Jahr. «Die Endoskopie erfolgt in Vollnarkose», erklärt Huwiler. Diese Sterilisation sei tiergerecht, weil die Tauben so ihr natürliches Verhalten beibehielten.

Vor bald 15 Jahren hat in Bern der städtische Tierpark das Taubenkonzept im Auftrag des Gemeinderats erarbeitet. Es beruht auf den drei Säulen Gesundheit, Populationskontrolle und Taubenmanagement sowie auf dem als wegweisend geltenden «Augsburger Modell». In Bern wurde es um die Sterilisation erweitert. Laut Huwiler senkte sich der Bestand so von rund 10' 000 Tauben auf etwa 1500. 

Huwiler und der Berner Tierpark werden immer wieder aus anderen Städten um Rat gefragt. Auch Fachleute aus dem Ausland interessieren sich für den Berner Weg. «Die Städte bei solchen Projekten vermehrt zu vernetzen, wäre sehr sinnvoll», sagt die Biologin.

Tauben sind sehr anpassungsfähige Kulturfolger. Sie erlangen also Vorteile, wenn der Mensch die Natur kultiviert, und folgen ihm in Siedlungen und Städte. Aber:  «Wir haben nicht die volle Kontrolle über die Population, niemand besitzt sie.» Die Tauben entschieden selbst, ob sie die Angebote der Menschen annähmen. Und deshalb sieht Meret Huwiler Stadttauben immer noch als Wildtiere, «als faszinierende, sowohl in biologischer Hinsicht als auch gesellschaftlich gesehen».

Gegen die Abschreckung

Zu Besuch in einem anderen Gebäude mitten in Bern, in dem man sich um Stadttauben kümmert: Direkt am Mauerfuss der grossflächig mit Graffiti verzierten Seitenwand der Reitschule hat Sabine Ruch eine verletzte Taube aufgelesen und in eine Stofftasche verfrachtet. 

«Sie hat sich am Flügel verletzt und kann deshalb nicht mehr fliegen», erläutert das 49-jährige Vorstandsmitglied des Vereins Stadttauben Schweiz. Sabine Ruch wird die Taube später in den Tierpark bringen, mit dem ihre Organisation zusammenarbeitet.

Eines der frühesten Haustiere

Eines der frühesten Haustiere

Vor 12 '000 Jahren wurden die ersten Menschen in Vorderasien sesshaft und hielten auch bald Tauben. Deren als hervorragender Dünger geschätzter Kot liess sich in Taubenschlägen leicht sammeln. Man gewann aus dem Dung auch Salpeter für die Herstellung von Schwarzpulver und für eine Allzwecklauge zum Bleichen von Stoffen und Haaren oder zum Ledergerben. Die Taube und ihre Körperteile wurden auch zu medizinisch-magischen Zwecken genutzt. Tauben dienten zudem als Opfertiere und Nahrungsquelle. Letzterem Zweck fiel Ende des 19. Jahrhunderts auch eine ganze wilde Taubenart zum Opfer: Die Europäer rotteten die in Nordamerika in Schwärmen von drei Milliarden Tieren vorkommende Wandertaube innert 30 Jahren aus. 

Schnell und teuer

Die Fluggeschwindigkeit und der Orientierungssinn der Taube machte sie seit dem Altertum zu einer unentbehrlichen Botin für wichtige Nachrichten, besonders in Kriegen. In denen kamen so Zigtausende Tauben um. Noch bis 1995 hatte die Schweizer Armee eine Brieftaubendivision. Dieselben Fähigkeiten machen die Taube heute zu einem beliebten Prestige- und Spekulationsobjekt: 2018 wurde eine belgische Renntaube für 1,25 Millionen Euro nach China verkauft, wo der Taubensport boomt. Und nicht zuletzt züchten Taubenliebhaber den Vögeln verschiedenste teilweise krank machende Aussehens- und Verhaltensmerkmale an.

In der Reitschule organisierte Sabine Ruch einst als Kulturmanagerin Konzerte. Inzwischen betreibt sie ein veganes Catering, doch sie kommt alle zwei Wochen her, um echte gegen falsche Taubeneier auszutauschen. «Das ist definitiv sinnvoller, als Mauern oder Fenstersimse mit Spikes zu versehen, um Tauben abzuschrecken», sagt Ruch. Dadurch würden die Tiere nur an andere Orte vertrieben; für die Anbieter der Abwehrausrüstung ist dies ein lukratives Geschäftsmodell.

Bekämpfung widerspricht dem zentralen Anliegen ihres Vereins: Dieser findet, Menschen hätten eine Verantwortung für die heutige Situation und müssten sich um die Vögel kümmern. Stadttauben seien schliesslich verwilderte Haustiere mit angezüchtetem Verhalten. Darunter befinden sich etwa Tauben, die nach Wettflügen oder Hochzeiten nicht mehr zurückkehrten.

«Hartnäckigste Vandalen»

Für Leute, die Tauben mit Schmutz und Krankheit assoziieren, mag die Fürsorge des Vereins Stadttauben seltsam erscheinen. Als «Ratten mit Flügeln» apostrophierte 1966 Thomas B. Hoving die Tiere. Er war in Manhattan für die Grünanlagen im Bryant Park verantwortlich. Die Tauben seien die «hartnäckigsten Vandalen» und würden «unseren Efeu, unser Gras, unsere Blumen fressen und die Gesundheit bedrohen». Hoving verlangte «eine Säuberung», damit der Park wieder ein besseres Publikum anziehen möge. 

Auch durch den Film «Stardust Memories» von Woody Allen aus dem Jahr 1980 verbreitete sich der Ausdruck international. Tauben wurden als «Gammler der Vorstädte» und «Kakerlaken der Lüfte» diffamiert, denen Menschen hilflos ausgeliefert seien. Die Vögel wurden als schmutzig, lästig und fremdartig bezeichnet. Bis heute werden sie auch mit Ekel betrachtet, und manche Leute haben auch Angst, dass die Tiere Seuchen übertragen.

Vögel mit erstaunlichen Fähigkeiten

Vögel mit erstaunlichen Fähigkeiten

Weltweit gibt es fast 350 Taubenarten mit unterschiedlichen Gefiedern, in diversen Grössen und Lebensräumen. Doch manches haben die Tauben gemeinsam: Sie sind gesellig und führen lebenslange Partnerschaften. In den Nestbau investieren sie nur das Nötigste. Sie legen pro Gelege ein bis zwei Eier und füttern ihre Jungen mit der nahrhaften Kropfmilch. Un­typisch für Vögel saugen Tauben das Wasser zum Trinken ein. Vom Aussehen her sind beide Geschlechter gleich oder fast gleich. Generell haben Tauben einen kleinen Kopf, kurzen Hals, grossen, runden Körper und leicht gebogenen Schnabel. Zu ihren aussergewöhnlichen Fähigkeiten zählen ihre Fluggeschwindigkeit von bis zu 100 Kilometern pro Stunde, dass sie über Hunderte von Kilometern Distanz in ihren Schlag zurückfinden und Infraschall hören können.

Die Furcht, dass Tauben Krankheiten übertragen, halte keiner fachlichen Beurteilung stand, betont Sabine Ruch. Die verletzte Taube, die ganz ruhig im Stoffsack sitzt, verfrachtet sie in eine luftigere Kartonschachtel. 

Das Bild der «Ratten der Lüfte» sei geprägt von der Furcht, dass Tauben Krankheiten übertragen würden. Dieses negative Image sei über lange Zeit von Schädlingsbekämpfungsfirmen sogar gepflegt worden, sagt Ruch. Doch: «In keinem einzigen Bericht über Zoonosen – Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden – finden sich Nachweise dafür.»

Einfach Körnlipicker

Auch das Bild der alles fressenden Vögel ist weitverbreitet. Doch die eigentliche Nahrung der Tauben besteht aus Körnern. «Wenn sie sich so ernähren, wird ihr Kot nicht sauer und ist auch nicht schädlich», sagt Sabine Ruch. Nur Metall könne beschädigt werden. 

In Städten müssen Tauben allerdings auch Fast-Food-Reste und andere Abfälle fressen. Unter ihrem «Hungerkot» leide der Sandstein, räumt Ruch ein. Die Fütterung ist deshalb zentral für artgerechtes Taubenleben. Und sie schützt sogar vor qualvollen Verletzungen: «Suchen die Tauben im Freien Nahrung, trippeln sie häufig am Boden herum und laden sich kleine Gegenstände auf die Füsse», erklärt Ruch. Darunter seien Haare, die sich um die Gliedmassen wickeln. Diese sterben ab und die Tauben leiden.

Nachweise für auf Menschen übertragbare Krankheiten finden sich noch in kei­nem einzigen Zoo­nosebericht.
Sabine Ruch, Vorstandsmitglied Verein Stadttauben

Sabine Ruch steigt nun im Innenhof der Reitschule eine Leiter hinauf, um einen Blick auf die nistenden Tauben zu werfen. «Diese hier nennen wir Motztaube: Sie reklamiert immer, pickt uns und schlägt mit den Flügeln», sagt Ruch, als ein Vogel gurrt und flattert, während sie bei der versteckten Brut hinter einem Brett die Eier prüft. 

In etwas mehr als fünf Jahren habe der Verein über 600 echte Eier gegen Attrappen getauscht. «Stadttauben legen das ganze Jahr hindurch Eier, dieser Bruttrieb wurde ihnen vom Menschen angezüchtet», erklärt die Tierschützerin. Bereits vor 6000 Jahren begann man sie, die von der Felsentaube abstammt, zu domestizieren.

Eine lange Verbindung

Tauben und Menschen sind seit Langem verbunden. Stadttauben müssten nach Ansicht von Tierschutzorganisationen rechtlich als Haustiere gelten. So wären gesetzliche Grundlagen für eine artgerechte Behandlung vorhanden.

Sabine Ruch und Meret Huwiler sind zufrieden mit der Zusammenarbeit von Verein und Tierpark. Das Konzept der Stadt Bern sei mit Blick auf den Tierschutz das beste in der Schweiz, obwohl Ruch den Vorgang zur Sterilisation männlicher Tauben nicht für ideal hält. 

Die von Huwiler gewünschte Vernetzung mit weiteren Städten begrüsst auch Ruch. Ihr kleiner Verein könne allein nicht viel bewirken. Oben im Dachstuhl gurren die Tauben.