Sex sells». Der Begriff «Sex» ist heute omnipräsent. War das zur Zeit des Neuen Testamentes auch so?
Ivana Bendik: Der Begriff «Sexualität» wurde erst im 19. Jahrhundert geprägt. Er war der Antike unbekannt. Sexualität als Akt wurde damals nicht als ein eigenständiger Bereich im Leben der Menschen wahrgenommen. Sexuelle Begierde und Lust waren untrennbar mit den Herrschafts- und Machtverhältnissen der antiken Gesellschaft verbunden.
Heute diskutieren wir über die«Ehe für alle». Was sagt die Bibel zum Thema Geschlechtlichkeit?
Es gibt bei Paulus eine Stelle im Galaterbrief. Dort werden alle Differenzen zwischen den Menschen aufgebrochen – auch die geschlechtlichen, die körperlichen.
Sie meinen: «da ist nicht Mann und Frau» in Galater 3,28?
Ja. Paulus beschreibt hier die «neue Schöpfung». Sie ist nicht mehr den Ordnungen der alten Welt unterworfen, dazu zählen auch die ethnischen, sozialen und eben auch die geschlechtlichen Zuweisungen. Doch noch viel wichtiger: Sie ist von der Herrschaft der Sünde befreit. Das heisst, sie ist aus der Destruktivität der Dynamiken und Strukturen ihrer Lebenswelten durch das Evangelium befreit worden. Erst nach dieser Befreiung kann sie endlich dem Gesetz Gottes dienen und Gerechtigkeit üben, statt wie vorher immer nur neue Ungerechtigkeiten zu schaffen.
Also gibt es im Himmel keine Frauen und Männer mehr?
Die Stelle bei Paulus kann man in Bezug auf die aktuelle Debatte so verstehen, dass der Mensch durch das Evangelium auch aus diesen geschlechtlichen Zuschreibungen, die auf weiten Strecken Zumutungen sind, befreit ist. Die Realität sieht leider auch innerhalb der Kirche anders aus. Das Geschlecht diktiert sehr dominant die Biografie. Der Mensch wird zudem auch gezwungen, die Gestalt seines Körpers, seinem Geschlecht entsprechend zu kultivieren. Interessen und Lebensstile sind dermassen vergeschlechtlicht, dass Transsexuelle all die Risiken auf sich nehmen, nur um ihre Genitalien ihrer Identität anzupassen, um «richtige» Männer oder Frauen zu sein. Wir müssten an diesen destruktiven Geschlechtszuweisungen etwas ändern, statt Operationen als Sünde zu bezeichnen.
Die Geschlechtlichkeit ist eine Schöpfungsordnung. Woran halten wir uns fest, wenn wir dieses Ur-Prinzip infrage stellen?
Halt sollte uns nicht die Geschlechtlichkeit der Körper geben, sonden vielmehr die goldene Regel, die das Gesetz der Heiligen Schrift zusammenfasst: «Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst». Orientierung kann uns die Lebensführung geben und nicht unser biologisches Geschlecht oder unsere sexuellen Präferenzen.
Aus Sicht des Evangeliums, was Sie ja als eindeutige Befreiungsbotschaft unter anderem auch von allen möglichen Rollen definieren, müssten Sie ja allen Menschen, ganz gleich welcher Sexualität Mut zusprechen, diese zu leben.
Unbedingt. Es ist doch eine Zumutung, einem Menschen vorschreiben zu wollen, wen er lieben darf und wen nicht. Oder in welchem Geschlecht er sich beheimatet fühlen darf und in welchem nicht. Wir sollten uns damit beschäftigen, wo und wie wir Not lindern können und nicht neue schaffen.
«#metoo» hat gezeigt, dass sexuelle Grenzüberschreitungen alles andere als selten sind. Wo positioniert sich eine evangelische Sexualethik?
Aus evangelischer Sicht geschieht Sexualität nicht nur zum Zweck der Fortpflanzung, sondern gilt als Bereicherung und Intensivierung von Liebesbeziehungen. Sexualität hat ihren Zweck auch in sich selbst und ist ein Geschenk. Voraussetzung ist, dass sie in Liebe stattfindet, im Wahrnehmen des anderen. Jegliche Grenzverletzung widerspricht ihrem Wesen als Geschenk. Doch Liebe, leidenschaftliche Liebe ist nicht ohne Verletzlichkeit zu haben.