Schwerpunkt 29. Dezember 2025, von Stefan Welzel

Auf der Jagd nach dem guten Leben

Selbstoptimierung

Sich selbst ständig verbessern zu wollen, ist nichts grundsätzlich Schlechtes. Doch der übersteigerte Individualismus unserer Zeit lässt das Gemeinwohl zu kurz kommen. 

Es ist das Zeitalter unendlicher Möglichkeiten. Wir können uns auf unzähligen Kanälen in Echtzeit über alles informieren, haben rund um die Uhr die Wahl aus einer riesigen Menge an Konsumartikeln, und selbst bei der Suche nach einer Partnerin oder einem Partner begegnen wir einer scheinbar grenzenlosen Auswahl auf Datingportalen. Die Entscheidungen, die wir dabei fällen, widerspiegeln unsere Interessen und Ideale, wir definieren damit unsere Persönlichkeit. Im Kern kreist alles um eine zentrale Frage: Wer will ich eigentlich sein? 

Grenzenlose Möglichkeiten gelten in einer Gesellschaft des Wohlstands und der individuellen Freiheiten. Unter anderen Lebensumständen haben andere Fragen Priorität. Doch die menschliche Natur bleibt beständig. Alle Menschen suchen eigentlich immer dasselbe: die Anerkennung durch die anderen. 

Jean-Jacques Rousseau, Genfer Philosoph der Aufklärung, erkannte darin Übel und Segen zugleich. Einerseits besteht durch die Anpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen stets die Gefahr der Entfremdung vom eigenen Leben und sich selbst. Andererseits treibt uns dieser Wunsch an, laufend an uns zu arbeiten und den jeweils geltenden Idealen entsprechend nachzustreben. Mit anderen Worten: uns selbst zu optimieren. 

Permanente Sichtbarkeit 

Das war schon immer so. Die Normen verändern sich – der Kern des sozialen Prozesses bleibt derselbe. Ein Beispiel: Blasse Haut galt in früheren Zeiten als schön. Man fand sie im Adelsstand oder der Bourgeoisie, deren Angehörige nicht körperlich arbeiten mussten. Von der Sonne gegerbte Haut war ein Zeichen harter Plackerei auf dem Felde. Erstrebenswert war und ist das Aufsteigen in bessergestellte Schichten und damit auch die Übernahme ihrer sichtbaren Merkmale. 

Über lange Zeit vollzog sich Selbstoptimierung für den Grossteil der Menschen im Privaten. In der (digitalen) Epoche grenzenloser Transparenz avancieren die öffentliche Selbstinszenierung und Rückversicherung durch die Allgemeinheit aber zum vermeintlich obersten Gebot. Die permanente Sichtbarkeit macht viele Menschen zu Getriebenen. Manche zerbrechen daran, andere verlieren sich in einem selbstverliebten Schaulaufen. 

Der lustvolle Hedonismus wird stigmatisiert, während ein ebenso hedonistisch anmutender Narzissmus kultiviert wird.

Jegliches Streben orientiert sich an den herrschenden Vorstellungen eines guten und richtigen Lebens. Nur – was macht dieses gute Leben aus? Die Vergegenwärtigung des Zeitgeists verdeutlicht, wie massiv die Angebote der Selbstoptimierung auf uns einwirken. Harte körperliche Trainings sollen uns fitter machen, Eisbaden steigert die Widerstandskraft, teure Crèmes bezwecken, die Jugendlichkeit zu bewahren. 

Selbstoptimierung macht nicht beim Physischen halt. Um den gestiegenen Erwartungen an sich selbst und der Anerkennung anderer gewiss zu sein, arbeiten viele Menschen ständig an ihrer geistigen Entwicklung. Sie wollen leistungsfähiger im Beruf sein und aufmerksamere Eltern.

Daran ist nichts falsch. Bedenklich ist vielmehr, dass Selbstdisziplin und Verzicht dabei als höchste Tugenden gelten. Wonne oder Müssiggang wird zunehmend negativ betrachtet. Der lustvolle Hedonismus wird stigmatisiert, während ein ebenso hedonistisch anmutender Narzissmus kultiviert wird. Unser individuelles Wohlbefinden und Weiterkommen steht immer in Beziehung zur Gemeinschaft. Nur vom Gegenüber erhalten wir Resonanz. 

Was wirklich nottut 

Die Frage muss aber auch sein: Inwiefern dient die individuelle Optimierung der Gesellschaft als Ganzes? Führt sie zu mehr Solidarität, oder dividieren wir uns im übersteigerten Individualismus auseinander? Aus kapitalistischer Perspektive könnte man annehmen, dass letztlich allen gedient ist, wenn jeder und jede sich selbst glücklich macht und optimiert. Doch Allgemeinwohl ergibt sich nicht bloss aus der Summe individueller Erfolge. Diese Rechnung geht nicht auf. 

Uns selbst nicht so wichtig zu nehmen und auf das Optimum auch einmal verzichten zu können: Das würde uns alle entspannter, vielleicht gar solidarischer machen. Letzteres haben unsere Gesellschaften angesichts aktueller globaler Verwerfungen viel dringender nötig als Milliarden von Egoisten auf der Jagd nach Glückshormonen im Angesicht des eigenen Spiegelbildes.