Recherche 02. Mai 2024, von Cornelia Krause

«Früher bedankte man sich im Gebet für das Schöne im Alltag»

Psychologie

Die Zürcher Landeskirche testet die App Resilyou. Die App-Entwicklerin Meike Kocholl über Dankbarkeit, Rituale und das Potenzial der Resilienz-App in der Seelsorge.

Was haben Sie zuletzt in das Dankbarkeitstagebuch Ihrer App Resilyou geschrieben?
Ich treffe mich seit langem mit einer Freundin aus meinem Gründerinnennetzwerk zum gemeinsamen Arbeiten an unseren jeweiligen Projekten. Weil sie künftig beruflich etwas anderes machen wird, hatten wir gestern unsere letzte gemeinsame Co-Working-Sitzung. Das war traurig. Aber zugleich bin ich dankbar dafür, dass wir so lange miteinander unterwegs sein konnten. 

Ein Dankbarkeitstagebuch, also regelmässige Einträge über Dinge, für die ich dankbar bin, geht doch auch mit Stift und Block. Wozu brauche ich dafür eine App?
Wenn Sie es schaffen, so ein Tagebuch mit Stift und Block zu führen, dann sehr gerne. Aber viele schaffen es eben nicht. Weil Stift und Block gerade nicht zur Hand sind, oder weil sie nicht daran denken. Unsere App erinnert einen daran, Eintragungen zu machen. Zudem lassen sich die Notizen mit Freunden oder Familie teilen, wir nennen das Growbuddies, analog zu den Gymbuddies, die einen motivieren, gemeinsam das Fitnessstudio zu besuchen.

Warum empfehlen Sie, das Dankbarkeitstagebuch zu teilen?
Es hilft einem, bei der Stange zu bleiben. Auch werden Beziehungen vertieft, denn habe ich Einblick in das Dankbarkeitstagebuch meines Growbuddies, nehme ich mehr teil an seinem oder ihrem Leben. Und schliesslich kann ich auch noch etwas lernen.

Zum Beispiel?
Meine Growbuddy hat sich immer über die Blumen gefreut, die sie sich selbst kaufte. Ich habe mir nie Blumen gekauft, fand, Blumen bekomme man ja eigentlich geschenkt. Nun aber kaufe ich mir auch öfters Blumen – und erfreue mich an ihnen. Das ist nur ein Beispiel von vielen.

Resilienz mit dem Smartphone trainieren

Die App Resilyou ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der reformierten Kirche St. Gallen und Studenten eines Design Thinking Kurses der Hochschule St. Gallen. Die St. Galler Landeskirche unterstützte im Anschluss die Entwicklung der App  mit Meike Kocholl als Projektleiterin mit einer dreijährigen Startfinanzierung in Höhe von 400.000 Franken. Mittlerweile ist das Projekt weitgehend eigenständig. Die App umfasst ein Dankbarkeitstagebuch, sowie weitere Anwendungen und Informationen zum Thema Resilienz. Insbesondere das Dankbarkeitstagebuch ist auch in der kostenlosen Version enthalten, die Vollversion kostet 48 Franken.  

Das Dankbarkeitstagebuch ist das Herzstück Ihrer App, aber eigentlich geht es um Resilienz. Was hat Resilienz mit Dankbarkeit zu tun?
Sehr viel. Die Dankbarkeitspraxis ist eine Intervention aus der positiven Psychologie. Und die positive Psychologie hat herausgefunden: Um ein negatives Ereignis aufzuheben, braucht es drei Positive. Denn unser Gehirn ist darauf programmiert, eher das negative zu sehen, zum Zweck der Selbsterhaltung. Um in dieser komplexen Welt, in der viele negativen Eindrücke auf uns einprasseln, klarzukommen, müssen wir trainieren, das Positive zu erkennen. Positive Eindrücke und Emotionen wirken wie Schutzfaktoren gegen psychische Erkrankungen und Stresssymptome wie Burnout, sie machen uns widerstandsfähiger, resilienter.

Ist Resilienz nicht eine Veranlagung?
Studien haben gezeigt, dass sie nur teilweise vererbbar ist. Ein grosser Teil ist erlernbar. Das braucht Zeit. Zunächst etabliert sich eher ein Trampelpfad zu positiven Emotionen. Nach und nach wird er zur Landstrasse und schliesslich zur Autobahn. Dann hat man es geschafft. 

Was geschafft? Können Sie ein Beispiel geben?
Verpasse ich den Zug und muss eine Stunde auf den nächsten warten, kann ich mich entweder ärgern oder ich freue mich darüber, dass ich nun die Chance habe, die eine Stunde zu nutzen um das Buch zu lesen, das ich dabeihabe. 

Die St. Galler Landeskirche hat die Entwicklung der App mitinitiiert und finanziell gefördert. Woher kommt das Interesse von Seiten der Kirche?
Kirchen machen seit Jahrhunderten Seelsorge, zu der auch Interventionen aus der positiven Psychologie gehören. Gewissermassen ist die App ein Copypaste von dem, was in verschiedenen Religionen schon lange praktiziert wird. Auch rituelle Aspekte spielen mit rein: Früher bedankte man sich im Gebet für das Schöne im Alltag. Doch heute ist die Welt säkularer, für viele Menschen besteht dieses Ritual nicht mehr. 

Meike Kocholl, 28, hat an der Universität St. Gallen Business Innovation studiert. Sie leitete das Projekt zur Entwicklung der App Resilyou und ist nun Gründerin und Geschäftsführerin der Resilyou Gmbh.

Seit Januar können Menschen aus dem Kanton St. Gallen die Vollversion der App umsonst herunterladen, die St. Galler Landeskirche übernimmt für ein Jahr die Kosten. Wie bewährt sich diese Initiative?
Über diese Aktion nutzen nun schon etwa 150 Nutzerinnen und Nutzer, die App kostenlos und sehr aktiv.

Das ist nicht viel.
Richtig. Aber wir haben noch nicht auf allen Kanälen auf das Angebot aufmerksam gemacht. Insbesondere von Werbung auf den sozialen Medien verspreche ich mir eine deutliche Zunahme. Und auch in den Kirchgemeinden bestehen viele Möglichkeiten, die App den Mitgliedern nahezubringen. Im ganzen deutschsprachigen Raum haben wir derzeit über 5000 Nutzerinnen und Nutzer. 

Was wissen Sie über Ihre Klientel?
Es sind überwiegend Frauen, sie machen über Dreiviertel der Nutzerinnen und Nutzer aus. Und obwohl die App eigentlich ursprünglich für junge Erwachsene entwickelt wurde, kommt sie bei den 40 bis 60-Jährigen sehr gut an.  In St. Gallen sind rund 60 Prozent der Nutzenden sehr kirchennah oder eher kirchennah, 22 Prozent eher kirchenfern. Das überrascht nicht, weil das Angebot bislang vor allem über den Kirchenboten publik gemacht wurde. Gerade bei den Kirchenfernen sehen wir noch viel Potenzial, vor allem für sie wurde die App auch entwickelt.   

Die Zürcher Landeskirche zieht nun nach und testet die App unter ihren Mitarbeitern, in einer Pilot-Kirchengemeinde und in der Spitalseelsorge. Warum ausgerechnet in diesem letzten Bereich?
Dort macht die App besonders viel Sinn. Denn Menschen, die aus dem Spital entlassen werden, sehen die Seelsorger in der Regel nicht mehr. Natürlich kann die App kein Seelsorge-Gespräch ersetzen, aber sie kann ein Weg sein, Strategien, die man in der Seelsorge gelernt hat, weiterzuführen. Oder beispielsweise als Growbuddies in Kontakt zu bleiben mit Menschen, die man im Spital kennengelernt hat.