"Viele wollen mehr Erlebnis und Ritual"

Weltanschauung

Spirituelle Angebote zur Optimierung des Lebens liegen im Trend. Georg Otto Schmid sagt, woran man fragwürdige Angebote erkennt – und warum Kirche mehr Raum für Rituale braucht. 

Ein Flyer bot Workshops zu «ganzheitlichem Wohlbefinden» an, etwa zu Spiraldynamik. Was halten Sie von davon?

Georg Otto Schmid: Angebote zur Optimierung der Persönlichkeit oder im Gesundheitsbereich sind derzeit sehr trendy. So auch Therapien gegen Schmerzen wie die Spiraldynamik. Viele dieser Angebote bewegen sich auf dem Übergang von wissenschaftsbasierter Therapie und spirituell-esoterischer Ausrichtung. Wie hoch der esoterische Anteil ist, der sich wissenschaftlich nicht verifizieren lässt, muss im Einzelnen geprüft werden.

Ehe ich ein solches Angebot wahrnehme, sollte ich also erst prüfen, was es damit auf sich hat? 

Es macht Sinn, als Kundin oder Kunde bei einer Stelle wie Relinfo das Angebot zunächst zu checken. Dass eine Therapie esoterische Anteile hat, heisst nicht zwingend, dass sie problematisch ist. Oft wird hierbei ein Glaube an die Methode vorausgesetzt, und das kann zu einem Placebo-Effekt führen. Die betreffende Person glaubt daran, dass es ihr besser geht, und das ist dann auch so. Dieser Effekt spielt gerade in der Schmerztherapie eine grosse Rolle und ist wissenschaftlich gut belegt.

Ab wann kann eine Therapiemethode zu einer Gefahr werden? 

Gefährlich wird es stets dann, wenn ich während einer solchen Therapie die Behandlung durch die wissenschaftsbasierte Medizin vernachlässige. So gibt es Anbieter, die ihren Klienten sagen: «Die Therapie wirkt nur, wenn du nicht zur Ärztin gehst.» Ein Beispiel dafür sind Anhängerinnen der Sektengründerin Uriella, die sogar verstorben sind, weil sie die schulmedizinische Behandlung abgelehnt haben.

Gibt es noch weitere Alarmzeichen? 

Achtgeben sollte man auch auf Abzocke. Wenn eine Sitzung deutlich mehr als 150 Franken pro Stunde kostet, wird es schnell unseriös. Darüber hinaus sind endlose Therapien eine rote Flagge. Denn daraus können sich persönliche Abhängigkeiten entwickeln, wie etwa, dass ich ohne die Konsultation des Heilers oder der Heilerin keinen eigenständigen Schritt mehr gehen kann.

Wenn Christinnen und Christen eine Therapieform aus einer anderen Weltanschauung wählen, kann das zu inneren Konflikten führen?

Das ist unterschiedlich. Wir raten ab, eine Therapieform auszuprobieren, die einer Weltanschauung entstammt, welche die Person fürchtet. Nehmen wir das Beispiel Reiki aus dem japanischen Shintoismus. Wenn nun jemand vor asiatischen Religionen Angst hat, kann sich sogar ein Nocebo-Effekt einstellen. Das heisst, die Person fühlt sich schlecht und ihr geht es dann auch tatsächlich schlechter. Es ist also wie beim Placebo-Effekt, nur umgekehrt.

Viele Menschen aus dem Westen suchen in den Weltanschauungen anderer Kulturen ihr Seelenheil. 

Schamanismus oder Neo-Schamanismus ist derzeit sehr trendy. Man sucht also eine indigene Kultur auf und will sich da heilen oder initiieren lassen. Das ist allerdings wegen der kulturellen Aneignung hoch umstritten. Wenn wir Westler in Kulturen gehen, die wir früher gar kolonialisiert haben, und nun auch noch deren indigene Weltanschauung konsumieren, ist das in kritischer Sicht doppelte Ausbeutung.

Warum suchen wir woanders als in unserer weltanschaulichen Tradition? 

Weil viele in gewissem Mass von unserer eigenen Tradition enttäuscht sind. Zentral ist vielleicht die Suche nach einem Ideal. Dieses Ideal des Lebens in Einheit mit der Natur ist auch im Schamanismus gegeben. Der Wunschtraum nach einem Leben in Einheit mit der Natur oder nach einem dauerhaft glücklichen, gelassenen Leben treibt Menschen zu indigenen Kulturen, die bei genauerem Hinschauen aber komplexer sind, als es das Ideal verheisst.

Wie ist die esoterische Szene in Graubünden aufgestellt? 

Es gibt einige Schamaninnen, die ihre Dienste anbieten. Dann ist die Hexenbewegung im Kanton recht populär. Begründet in der Mitte des 20. Jahrhunderts, bietet diese Bewegung vor allem Rituale an, etwa das Vollmondritual oder die Acht-Jahreszeiten-Rituale. Zu den Angeboten gehört auch Magie für das persönliche Leben. Hier wird verheissen, mittels Ritualen den Erfolg oder das Geld zu mehren, geheilt zu werden oder mithilfe von Liebeszaubern die Traumpartnerschaft zu finden. Hausreinigungen sind auch ein beliebtes Thema, also die Reinigung der Wohnung von Geistern oder negativen Energien. Insbesondere junge Menschen probieren diese Angebote aus, um zu schauen, ob da was dran ist.

Ist das problematisch? 

Ja, wenn ich die irdische Lösung meiner Probleme aus dem Blick verliere und nur auf Magie setze. Oder wenn ich daran glaube, dass ich andere Menschen mit Magie beeinflussen kann. Das geht dann logischerweise auch umgekehrt und kann in Verfolgungswahn münden, indem ich alles Negative, was mir passiert, als Folge von schwarzer Magie deute.

Sind die Angebote der Landeskirche etwa zu «vernünftig»? 

Die reformierte Kirche ist sehr verstandesbetont, das ist auch wichtig, denn die Rationalität ist eine ihrer Stärken. Aber etwas mehr Erlebnis, Ritual und Spiritualität wird heute gewünscht, weshalb viele Kirchgemeinden ihr spirituelles Angebot bereits erweitert haben. Für uns Menschen ist es eben wichtig, dass auch die Seele angesprochen wird und nicht nur der Verstand. 

Georg Otto Schmid, 59

Georg Otto Schmid wuchs in Trimmis und Chur auf. Später studierte er Theologie in Zürich und Basel. Seit 1993 ist er Mitarbeiter der Fachstelle Relinfo, die sich im Auftrag der Landeskirchen mit der aktuellen religiösen und weltanschaulichen Landschaft in der Schweiz beschäftigt. Seit 2014 ist er Leiter von Relinfo. www.relinfo.ch

«Es wichtig, dass auch die Seele angesprochen wird, nicht nur der Verstand.»