Horror Vacui oder der Schrecken vor der Leere: Der lateinische Begriff beschreibt eine Theorie des Philosophen Aristoteles, derzufolge es in der Natur keine Leerräume geben kann, weil «das dichtere umgebende materielle Kontinuum die Seltenheit einer beginnenden Leere sofort ausfüllen würde». So heisst es in den Werken des griechischen Gelehrten.
Stille aushalten
«Auch unser Geist ist bewegt von Horror Vacui», sagt Noa Zenger. Die gebürtige Berner Oberländerin ist Pfarrerin in Bergün, ausgebildete Exerzitienleiterin und Geistliche Begleiterin, leitet Fastenkurse und war viele Jahre Meditationsleiterin im Lassalle-Haus im Kanton Zug. «Die Stille auszuhalten, ist anspruchsvoll», so Zenger. Kaum setze sie ein, beginne – wie um ein Vakuum auszufüllen – das Gedankenkreisen. «Aber man kann den Geist lehren, damit umzugehen.»
Alte Gebetspraxis
Seit jeher üben sich die Menschen in Meditation, um Ruhe im Geist zu erlangen und oft auch um Gottesnähe zu gewinnen. In allen Religionen existieren deshalb Praktiken dazu, auch das Christentum kennt sie.
Mystische Erfahrungen, also Gotteswirklichkeit bei sich selbst zu finden, lösen auch Gebete aus. Meister Eckart, der grosse Mystiker des Mittelalters, beschrieb den Vorgang so: «Geh in deinen eigenen Grund, denn in deinem Grund ist dein Sein und Gottes Sein ein Sein.»
Von der Atheistin zur Katholikin
«Solche Gebetsformen als geistliche Übungen in Stille und Rückzug vom Alltag gehören zu den ältesten Formen der Meditation im Christentum», sagt Ursina Hardegger. Die Davoser Pfarrerin ist auch Geistliche Begleiterin und leitet die Gruppe, die Teil des überregionalen ökumenischen Projekts «Grosse Exerzitien im Alltag – Gott einen Ort sichern» ist. Die «Grossen Exerzitien im Alltag» – Exerzitien nennt man im Christentum geistliche Übungen – sind ein spiritueller Weg. Er basiert auf der Gebetspraxis von Ignatius von Loyola (1491–1556), dem Mitbegründer des Jesuitenordens. Der Weg sieht für die Projektteilnehmenden vor, sich täglich zwei Gebetszeiten zu reservieren: mit einem Tagesimpuls morgens und einem Tagesrückblick am Abend. Die Impulse erhalten die Teilnehmenden aus einem Begleitbuch mit Texten von Madeleine Delbrêl. Sie lebte im letzten Jahrhundert in Paris und wandelte sich im Lauf ihres Lebens von der Atheistin zur katholischen Mystikerin. Ihre Erfahrungen und Überzeugungen beschreibt sie in leicht zugänglichen Bildern, die bis heute inspirierend sind.
Neue Wege gehen
Das Meditationsprojekt orientiert sich am Kirchenjahr und fängt Mitte November an und dauert bis Pfingsten 2026. Die Gruppe trifft sich jeden Monat, um Erfahrungen auszutauschen. «Neue Wege gemeinsam zu gehen, ist ein Grundverständnis von Kirche. In der Gemeinschaft bestärken wir einander, an den Übungen dranzubleiben», sagt Hardegger. Die Projektleiterin steht auch ausserhalb der monatlichen Austauschtreffen für Einzelgespräche zur Seite. Denn: «Es kann sein, dass dabei Themen aufkommen, die ein Gegenüber erfordern, das einzuordnen hilft», so Ursina Hardegger.
Grosses Bedürfnis
Das Projekt lanciert haben Hildegard Aepli, Seelsorgerin und Mitarbeiterin im Pastoralamt St. Gallen, Annette Schleinzer, Exerzitien-Begleiterin im deutschen Röderhof, und Mirjam Wey, Exerzitien-Leiterin und Pfarrerin der reformierten Kirchgemeinde Bern-Nord. Vor zwei Jahren ist Hildegard Aepli mit einem ähnlichen Format im Kanton St. Gallen auf ein riesiges Bedürfnis gestossen. Statt der erwarteten zehn, zwanzig Personen hätten sich über 200 angemeldet. Das habe sie motiviert, das Angebot auszuweiten.Die Ziele der «Grossen Exerzitien im Alltag» sind: Vertiefung im Glauben, Finden innerer Klarheit und eine stille Auszeit im Alltag. Oder wie es Noa Zenger formuliert: «Meditation als Friedensarbeit mit sich selbst.»
