Gesellschaft 31. Oktober 2025, von Hans Herrmann

«Er war ländlich und christlich geprägt»

Zeitgeschichte

Friedrich Traugott Wahlen ist als Planer der «Anbauschlacht» in die Annalen eingegangen. Wahlen-Kenner Ernst Wüthrich berichtet – auch über Wahlens christlichen Hintergrund.

Der Name Friedrich Traugott Wahlen ist untrennbar mit dem Begriff «Anbauschlacht» verbunden. Ist das eigentlich der historisch korrekte Begriff?

Ernst Wüthrich: Historisch korrekt ist die Bezeichnung «Anbauwerk Wahlen». Der Begriff «Anbauschlacht» hat sich aber eingebürgert, und daran hat Wahlen selbst grossen Anteil. 1940, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs also, stellte der promovierte Agronom seinen Plan in Zürich öffentlich vor, das Referat wurde auch am Radio übertragen. Wahlen bediente sich einer zugleich wehrhaften wie biblisch konnotierten Ausdrucksweise. «Wir wollen kämpfen um die Unabhängigkeit der Schweiz mit dem Ziel: Brot für uns alle aus eigenem Boden». Das ist nicht die Ausdrucksweise eines Beamten, sondern eines brillanten Rhetorikers. Statt «Agrarerzeugnisse» sagte er «Brot»: Das ging zu Herzen.

Konkret hatte Friedrich Traugott Wahlen während des Zweiten Weltkriegs die Aufgabe, den agrarischen Selbstversorgungsgrad der Schweiz zu steigern. War das überhaupt in relevantem Ausmass möglich?

Vor dem Zweiten Weltkrieg betrug der Selbstversorgungsgrad der Schweiz 50 Prozent. Während des Kriegs war die Schweiz von den feindlichen Achsenmächten umgeben und die Situation entsprechend prekär. Importe waren kaum mehr möglich. Das Anbauwerk Wahlen dämmte die Angst vor Hunger und Krieg. Die Selbstversorgung der Schweiz mit Nahrungsmitteln liess sich bis zum Kriegsende auf 73 Prozent steigern. Hunger musste damals in der Schweiz niemand leiden, zumindest Kartoffeln und Gemüse hatte es immer genug. Beides war, im Gegensatz zu anderen Lebensmitteln, auch nie rationiert.

Wie ist Wahlen vorgegangen?

Sein Plan umfasste drei Säulen. Zum einen strebte er an, die Viehwirtschaft so weit als möglich zu verringern und stattdessen den Ackerbau auszuweiten. Wenn ich Ackerfrucht für den menschlichen Verzehr anbaue, kann ich im Optimalfall zehnmal mehr Menschen ernähren, als wenn ich auf derselben Fläche Futtermittel für die Fleischproduktion kultiviere. Beim Umweg über das Tier gehen sehr viele Kalorien verloren. Diese Tatsache gewinnt in der heutigen Ernährungsdiskussion bekanntlich wieder an Aktualität.

Beim Umweg über das Tier gehen sehr viele Kalorien verloren. Diese Tatsache gewinnt in der heutigen Ernährungsdiskussion bekanntlich wieder an Aktualität.
Ernst Wüthrich, Wahlen-Kenner

Und welches waren die beiden anderen Säulen des Wahlen-Plans?

Säule zwei war die Rationierung von Lebensmitteln wie Milch, Kaffee oder Zucker – damit es für alle reichte, auch für die weniger Begüterten. Hinzu kam drittens die Bewirtschaftung von nicht agrarischen Flächen durch zahlreiche Kleinpflanzer, zum Beispiel in Privatgärten, auf Fussballfeldern oder in öffentlichen Grünanlagen. So wurden etwa auch dicht neben dem Bundeshaus in Bern und auf dem Zürcher Sechseläutenplatz Kartoffeln angebaut.

Bei der Umsetzung gab es sicher Probleme.

Grundsätzlich ist es Wahlen mit seiner motivierenden Art gelungen, die allermeisten Beteiligten mit ins Boot zu holen. Aber Ackerbau ist arbeitsintensiv und stiess während des Aktivdienstes, als viele Bauern im Militär waren, an gewisse Grenzen. Und in manchen Gegenden hatte man mit Ackerbau vorerst wenig Erfahrung. Etwa im Thurgau, wo der Obstbau vorherrschte. Oder in höheren Lagen, wo man traditionell Milch- und Fleischwirtschaft betrieb. Einzelne Bergbauern stellten sich auch quer – davon handelt der Roman «Der schwarze Tanner». Sie waren aber die Ausnahme.

Wie sieht es mit dem Selbstversorgungsgrad in der Schweiz heute aus?

Dieser beträgt heute etwa 40 Prozent, also gut 30 Prozent weniger als 1945. Damals lebten in der Schweiz aber bloss 4,3 Millionen Menschen, heute sind es doppelt so viele.

Was war Traugott Friedrich Wahlen für eine Mensch?

Im Emmentaler Weiler Gmeis, der zur Gemeinde Mirchel bei Zäziwil gehört, ist er aufgewachsen. Sein Vater war Lehrer und Prediger bei der Evangelischen Gesellschaft. Zeitlebens blieb Wahlen ländlich und christlich geprägt. Zugleich war er weltoffen, differenziert im Denken, international vernetzt und interessiert an der Wissenschaft. Sein Leben und Wirken waren, so könnte man es auf eine knappe Formel bringen, geprägt von Verwurzelung, Breite und Weitsicht.

Friedrich Traugott Wahlens Wirken war vom Gedanken der christlichen Nächstenliebe geprägt. Nächstenliebe war für ihn nicht nur Theorie, sondern helfendes Tun.
Ernst Wüthrich, Wahlen-Kenner

Hat der christliche Glaube sein Wirken als Beamter, UNO-Funktionär, ETH-Dozent und Politiker merklich beeinflusst?

Friedrich Traugott Wahlen glaubte, dass eine persönliche Beziehung zu Gott möglich ist, und er war von einem göttlichen Eingreifen in die Geschicke der Welt überzeugt. Missioniert hat er aber nicht, stattdessen war er in seinem Leben ein Vorbild für viele. Seine Schriften und sein Handeln – gerade auch sein Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit – sind vom Gedanken der christlichen Nächstenliebe geprägt. Nächstenliebe war für Wahlen nicht nur Theorie, sondern helfendes Tun.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Nach dem Krieg wurde Wahlen bei den Vereinten Nationen Direktor der Abteilung Landwirtschaft. In dieser Funktion führte er in Nepal das Käsen ein und liess Bergbrücken nach Schweizer Erfahrung bauen. Zudem liess er an der ETH eine Getreidesorte für höhere Lagen entwickeln. Das alles war Hilfe zur Selbsthilfe – und getragen von Wahlens christlichem Ethos.

Wie fassen Sie Wahlens Bedeutung als wichtige Schweizer Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts zusammen?

Seine Anbauschlacht ist ein nach wie vor aktuelles Beispiel, wie ein Staat seine agrarische Selbstversorgung fördern kann. Zweitens war er ein Realisator, ein Macher; sein agronomisches Engagement in Nepal etwa ist ein Erfolg bis heute. Und drittens hat er gezeigt, wie sich christliche Grundwerte im Dienst aller Menschen in die Politik einbringen lassen.

Der emeritierte Wirtschaftsprofessor Ernst Wüthrich ist Hauptautor eines Dokumentarfilms über Friedrich Traugott Wahlen.

Agrarprofessor, UNO-Funktionär, Bundesrat

Agrarprofessor, UNO-Funktionär, Bundesrat

Friedrich Traugott Wahlen (1899–1985) war Agrarprofessor an der ETH Zürich, Politiker (BGB, heute SVP) und Bundesrat von 1958–1965. Bekannt wurde er als Vater und Koordinator der sogenannten Anbauschlacht während des Zweiten Weltkriegs. Unter Federführung des emeritierten Wirtschaftsprofessors Ernst Wüthrich ist ein Film über Wahlen entstanden, in dem nicht nur seine Biografie, sein Schaffen und seine Wertehaltung gezeigt werden, sondern auch letzte Zeitzeugen zu Wort kommen.

Filmvortrag «F. T. Wahlen» mit Prof. Ernst Wüthrich: 21.11.2025 um 19.30 Uhr im Kirchgemeindehaus Langnau i.E. Eintritt frei, keine Anmeldung nötig.