Hat die Ehrfurcht vor dem Unerklärlichen noch ihren Platz in der modernen, von der Vernunft dominierten, wissenschaftlich geprägten und aufgeklärten Welt? Mit Sicherheit. Vielen Menschen, vielleicht allen, wohnt eine Sehnsucht nach dem Unergründlichen, dem Letzten und Wahren inne. Davon sprechen die Mythen und Legenden der Menschheit, davon sprechen die Religionen. Sie alle kreisen um die Fragen nach dem, was diese Welt zusammenhält, was das Menschsein ausmacht, was es mit Geist und Seele auf sich hat. Mit diesen Rätseln befassen sich aber auch die Naturwissenschaften. Und dringen immer neu zu jenen Grenzen vor, wo das Wissen aufhört und das Staunen anfängt.
Tiefenbohrung. Der Berner Publizist Lorenz Marti legt mit seinem neuesten Buch «Der Innere Kompass» ein Werk vor, das dazu einlädt, sich den Mysterien der Welt, der Wissenschaft und des Denkens offen und staunend zu nähern. Er tut dies in gedanklicher Tiefe und sprachlicher Klarheit; angesprochen fühlen dürfen sich somit nicht nur philosophisch Geschulte, sondern alle, die sich zu den grossen Fragen hingezogen fühlen und sich auf zeitgemässe Art damit auseinandersetzen möchten.
Zeitgemäss ist Martis Umgang mit diesem Themenfeld insofern, als er dabei die Einsichten der Naturwissenschaften mit spirituellen Anliegen verbindet und versöhnt. «Was uns ausmacht und was wirklich zählt» – so lautet der Untertitel des Buchs. Diese Frage reflektiert der Autor anhand verschiedener Themenfelder. «Kreativität begegnet Realität: Wie die Welt im Kopf entsteht» heisst eines, «Leben im Resonanzfeld: Das Ich ist mehr als ich» ein anderes, und ein weiteres ist überschrieben mit «Die Ordnung der Dinge: Was trägt und verbindet».
Dabei stösst der Leser, die Leserin immer wieder auf Erkenntnisse, die staunen lassen und etwas von der geordneten Schönheit zeigen, die der Welt, dem Kosmos, dem Sein innewohnt. Ein kleines Beispiel: Gleichungen, die Atome beschreiben, ähneln denjenigen für den Klang von Musikinstrumenten. «Wenn es Zufall ist, dann ein wunderschöner. Ein Geschenk», sagt dazu Frank Wilczek, Nobelpreisträger 2004 für Physik. Und Lorenz Marti schreibt: «Von Pythagoras und Platon über Galilei und Newton bis zu Maxwell, Einstein und Heisenberg: Wissenschaft wird vorangetrieben von der Suche nach der Wahrheit – und von einer tiefen Sehnsucht nach Schönheit. Dahinter steht letztendlich das urmenschliche Verlangen nach Sinn.»
Suchen fragen, forschen: Das ist für den Autor ebenso spirituell wie geistliche Kontemplation. Denn: Im naturwissenschaftlichen Erkennen liege der Quell so manchen ehrfürchtigen Staunens, sagt er im Gespräch. «Von dieser Ehrfurcht ergriffen werden oft auch die Atheisten unter den Forschern.» Wer wirklich tief in die Mathematik, Physik, Astronomie, Biochemie und deren Rätsel eindringe, wisse um die Grenzen des Erklärbaren und kenne das Staunen über das Unerklärbare. «Die Forscher reden dann nicht von Gott, sondern leiser und diskreter vom Geheimnis der Welt.» Und: «Die Naturwissenschaften erzählen uns heute eine Schöpfungsgeschichte, die nicht weniger rätselhaft und geheimnisvoll ist als die alten Schöpfungsmythen der Religionen. Aber ihre Sprache ist eine andere.» Allerdings gelte es, Übersetzungsarbeit zu leisten und interessierten Laien die Zusammenhänge verständlich zu machen, sagt Lorenz Marti. Eine Aufgabe, die ihm liege, weil er selber von den Entdeckungen fasziniert sei, die ihm die Wissenschaften immer von Neuem bescherten. «Und weil ich selber Laie bin.»
Dankbarkeit. Gibt es nach heutigem Verständnis nicht Erklärungen für alles, wenn man nur genug darüber weiss? Lässt sich somit nicht irgendwann alles wissenschaftlich erklären? Das glaubt Lorenz Marti nicht. «Jedenfalls würde das kein ernsthafter Naturwissenschaftler behaupten», meint er. Das Staunen über die Welt bleibe bestehen. «Und auch Dankbarkeit, denn das Leben ist ein Geschenk.»
Ein Geschenk von wem? Diese Frage lässt der Autor offen. «Das Staunen und ein Gespür für das Geheimnisvolle genügen. Wie wir das dann nennen, ist nicht so wichtig. Für einige ist es Gott oder das Göttliche, für andere die Transzendenz allgemein oder das Geheimnis des Seins.»