Recherche 23. September 2019, von Hans Herrmann

Wenn alte Überzeugungen ihre Kraft verlieren

Spiritualität

Kann man glauben, ohne gläubig zu sein? Kann man religiös sein, ohne einer Religion anzugehören? So fragt Lorenz Marti in seinem neuen Buch.

Kann man glauben, ohne gläubig zu sein? Kann man religiös sein, ohne einer Religion anzugehören? Kann man Christ sein, ohne sich den Lehrsätzen der christlichen Religion unterzuordnen? Das sind die Fragen, die den Berner Autor Lorenz Marti umtreiben. Und vor allem, wie es jenseits von Dogmatismus und blindem Glauben möglich ist, dem Unsagbaren nachzuspüren.

Nicht Religion ist das, sondern Spiritualität – eine breit anwendbare, frei schwebende, vieles offen lassende geistige Übung im Lebensalltag, lebenslang, lebensbereichernd, lebenserklärend und vor allem auch: den Geist herausfordernd. Etwas für freie Geister also – und so nennt Marti denn auch sein neuestes Buch: «Türen auf! Spiritualität für freie Geister».

Leicht modrig wirkende Begriffe wie Religion, Gott, Glaube und Beten bereiten Lorenz Marti Unbehagen. Und doch ist er ebendiesen Begriffen in Sympathie verbunden; er möchte sie aber neu verstanden und neu reflektiert wissen, in einer individualistischen und entfesselten Zeit, die sich allgemein so schwer tut mit allem, was nach tradierter Religiosität riecht, nach Predigt, Gebot, Verbot, Heiligkeit, Gnade, Sünde, Schuld und Sühne. Indem Marti über die alten Begriffe nachdenkt, öffnet er die Türen zu einer Neuinterpretation: mystisch statt dogmatisch, fragend statt antwortend, aufzeigend statt belehrend.

Hoffnung auf Neues

«Wie so viele bin ich im Rahmen der christlichen Tradition aufgewachsen», schreibt der Autor. «Und wie so viele erlebe ich, dass dieser Rahmen brüchig geworden ist.» Er habe seine Selbstverständlichkeit und teilweise auch seine Überzeugungskraft verloren. «Die Formeln und Formen stehen infrage und mit ihnen auch die Inhalte.» Marti sieht aber Anzeichen eines neuen Aufbruchs. «Ich bin ziemlich sicher, dass aus den Bruchstücken der Tradition etwas Neues hervorgehen wird.»

Was dieses Neue sein könnte, lässt Marti offen; letztlich ist zum jetzigen Zeitpunkt auch keine eindeutige Antwort möglich. Martis persönlicher Weg ist der Weg des Nachdenkens, Staunens und Berührtwerdens – im Rahmen einer Spiritualität, die sich «ereignet», wie er im Kapitel «Ein frischer Wind» schreibt. Vorwiegend seien es Beziehungen, in denen sich Spiritualität ereigne: Beziehungen zu Menschen, zur Natur, zur Musik, zur Literatur. «Und in der Beziehung zum Urgrund aller Wirklichkeit, wenn weit über das eigene Ich hinaus eine allumfassende Zugehörigkeit spürbar wird.»

Die magischen drei Seiten

Lorenz Marti gliedert sein Buch in neun Grosseinheiten, übertitelt mit Aufbruch, Freiheit, Sinn, Vertrauen, Verbundenheit, Gelassenheit, Wahrheit, Offenheit und Zuversicht. Diese Themenbereiche sind wiederum in mehrere Kapitel unterteilt, von denen jedes genau drei Seiten umfasst. Eine versteckte Huldigung an die Dreizahl, die in vielen Religionen und Kulturen als heilig gilt? Oder eine Konzession an die Leserschaft, die Komplexes lieber in leicht verdaulichen Häppchen zu sich nimmt als in fetten Brocken?

Wie auch immer: Wenn Lorenz Marti über Philosophisches, Spirituelles und andere Abstrakta nachdenkt, tut er dies in einer unprätentiösen und klaren Sprache. Diffuses macht er begreiflich, Schwieriges verständlich. Das Gedankengebäude, das er entwirft, scheint sich dennoch vorab an ein Publikum zu wenden, das sich in der Welt von Theologie, Philosophie und Literatur vertraut bewegt. Angesprochen sind Leute in beruflich, sozial und materiell geklärten Lebensumständen, die auf der Suche nach einem höheren Sinn sind, nach geistiger und geistlicher Klärung auf anspruchsvollem Niveau.

Was aber ist mit den Ärmsten der Armen, den Ausgegrenzten, den Geknechteten, den Geschundenen dieser Welt? Eine Aussage wie «Die religiöse Beziehung zur Welt erwächst aus dem Bewusstsein, dass jeder Augenblick ein Geschenk ist» scheint nicht wirklich in ihre Lebenswelt zu passen.

Der Hirte als Tröster

Wollte man Lorenz Marti schöngeistige Unverbindlichkeit unterstellen, würde man es sich aber zu leicht machen. Er kennt das Wunderbare des Daseins ebenso wie seine Härten. Deshalb schreibt er in seinem Buch auch, dass in persönlichen Notlagen manchmal ganz einfach ein Gebet oder ein Bibelwort Trost spendet, jenseits von aller kritischen Reflexion und von allen abwägenden Zweifeln. Psalm 23, «Der Her ist mein Hirte», sei seine seelische Hausapotheke, gesteht Marti. «Er begleitet mich, er beruhigt mich, er stärkt mich, er gehört zu mir, und das seit vielen Jahren.» Und fragt sich und seine Leserschaft: «Ist es nicht seltsam, dass ich mit einem Psalm lebe, der mir genau genommen fragwürdig erscheint und gegen den ich eigentlich Widerspruch anmelden kann?»

Lorenz Marti: Türen auf! Herder Verlag, 192 S., Fr. 28.-

Lorenz Marti, 66

Der Publizist war langjähriger Mitarbeiter der Redaktion Religion des Schweizer Radios und Autor der monatlichen Kolumne «Spiri­tualität im Alltag» in «reformiert.». Aus seiner Feder stammen auch die Bücher «Wie schnürt ein Mystiker seine Schuhe?», «Eine Handvoll Sternenstaub» und «Der innere Kompass». Lorenz Marti lebt mit seiner Frau in Bern.