Vor der Welt zuerst den eigenen Betrieb verändern

Wirtschaft

Brot für alle, die Entwicklungsorganisation der reformierten Kirche, will mit gutem Beispiel vorangehen und ist neu holokratisch organisiert.

Agile Organisationsmodelle mit flacher oder ganz ohne Hierarchie sind im Trend. Statt auf Chefposten setzen die Unternehmen auf selbstverantwortliche Mitarbeitende und autonome Teams. So sei man besser gewappnet für die schnellen, komplexen Entwicklungen in der heutigen Gesellschaft, sagen die Verfechter der sogenannten Holokratie.

Den Wandel ernst nehmen

«Wir haben die Holokratie nicht eingeführt, weil sie trendy ist», betont Bernard DuPasquier, Geschäftsleiter von Brot für alle. Doch so heisst er nur noch gegen aussen. Intern ist der Theologe mit langjähriger Hilfswerkerfahrung jetzt der «Lead-Link Organisationsentwicklung». Chefs gibt es nicht mehr. Das Werk sei reif gewesen für einen Aufbruch, als er vor drei Jahren die Leitung übernommen habe, so DuPasquier. Zu viele und zu lange Sitzungen, zu schwerfällige Entscheidungsprozesse. Doch der Hauptgrund für die Neuorientierung liegt tiefer. Seit zwei Jahren versteht sich Brot für alle als Teil der internationalen Transitionsbewegung, die angesichts ökologischer und ökonomischer Probleme neue Wege in der Wirtschaft und im Umgang mit der Umwelt propagiert. «Wer die bestehenden Strukturen kritisiert und selber nichts Neues vorlebt, wird unglaubwürdig», sagt DuPasquier.

Auf der Suche nach Inspiration besuchten Teams des Hilfswerks Permakultur-Pioniere, Vordenker im Bereich Natur und Spiritualität, aber auch Firmen wie den appenzellischen Mineralwasserproduzenten Goba oder die Swisscom, in der zwei Abteilungen holokratisch arbeiten. Die Wahl fiel auf die Holokratie. Brot für alle liess sich aber nicht teuer zertifizieren für das Modell des US-Unternehmers Brian Robertson. Es wurde frei übernommen, teilweise auch abgeändert.

Die Probleme selbst lösen

Neu haben die Mitarbeitenden bei Brot für alle sogenannte Rollen statt fixe Stellenprofile. Das Werk ist nicht mehr in Ressorts, sondern in Kreisen organisiert. Noch entsprechen diese weitgehend den früheren Ressorts, also zum Beispiel Fundraising, Entwicklungspolitik oder Geschäftsleitung. Rollen wie Kreise können aber im neuen Organisationsmodell einfacher und schneller veränderten Bedürfnissen angepasst werden. Auch die neuen «Lead-Links» sind noch die gleichen Personen, die den bisherigen Ressorts vorstanden. Ihre Aufgaben aber haben sich verändert. «Ich berate, wenn das gewünscht wird», sagt Regula Reidhaar, frühere Leiterin des Ressorts Kommunikation und Bildung. Ansonsten gilt die Devise: Die Mitarbeitenden lösen ihre Probleme selbst, bilateral mit den Personen, die vom Thema betroffen sind. Und sie entscheiden selber, wie sie innerhalb der definierten Verantwortlichkeiten ihre Rolle gestalten. «Der Zuständige für Spendermailings weiss am besten in welchem Rhythmus und in welcher Form er diese macht», sagt Reidhaar. Nur was auf hierarchisch flachem Weg nicht gelöst werden kann, kommt überhaupt in die monatlichen Sitzungen des «General Circle». Dort gibt es jetzt auch mehr Mitsprache. Nicht nur die früheren Chefs entscheiden, sondern auch die «Rep-Links», Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die im Turnus von ihrem Kreis delegiert werden..

Eine nüchterne Revolution

Ein Augenschein im «General Circle» zeigt: Wer viel Spontanität und Kreativität erwartet hat, wird enttäuscht. Das Vorgehen ist nüchtern. Man sitzt zwar ohne Tisch im Kreis, die Moderatorin aber führt straff, die Beiträge der Runde sind knapp, Einwürfe und spontane Entgegnungen nicht vorgesehen. DuPasquier etwa berichtet kurz von einem Treffen mit anderen holokratisch organisierten Unternehmen. Von der Webagentur Liip und dem Taschenfabrikanten Freitag hat er Ideen für neue Mitarbeitergespräche mitgenommen. Er stellt seinen Plan knapp vor, die Anwesenden steuern ihre Meinung bei, am Schluss ist klar: Weiter so. Das dauert ein paar Minuten, die ganze Sitzung eine knappe Stunde.

«Für mich hat sich der Sitzungsaufwand halbiert», sagt DuPasquier. Sehr viele Fragen, mit denen sich früher die Geschäftsleitung befasste, würden jetzt anderswo gelöst. Auch lange Informationssitzungen gehören der Vergangenheit an. Alle Daten sind für alle zugänglich, die Sitzungen freiwillig.

«Die neue Sitzungsart war am Anfang etwas befremdend», sagt Madeleine Bolliger, die bis vor Kurzem Rep-Link war. Zuvor sei das Debattieren im Betrieb hoch im Kurs gestanden. Dass man sich zurücknehmen müsse, dafür aber jede und jeder zu Wort komme, sieht sie heute als Gewinn: «Der abstrakte Begriff der kollektiven Intelligenz wird so zuweilen richtig spürbar.» Sie schätzt auch, dass die Holokratie strikt zwischen Rolle und Person trennt. Maria Dörnenburg, ebenfalls Rep-Link der ersten Stunde, weist auf den holokratischen Grundsatz: «Safe enough to try» hin. Um kreative Vorschläge von anderen zu stoppen, muss man erst belegen, dass sie schädlich für die Organisation sein könnten.

Verantwortung als Last

Holokratie ist nicht immer ein Erfolgsmodell. Einige Unternehmen schafften sie wieder ab. Nicht zuletzt, weil es auch Mitarbeitende gibt, die klare Vorgaben schätzen und nicht zu viel selbst bestimmen mögen. Auch bei Brot für alle seien erst nicht alle begeistert gewesen, erzählen Bolliger und Dörnenburg. Viele der Bedenken aber seien inzwischen verschwunden. Dennoch soll jetzt neu zweimal im Jahr ein Austausch stattfinden, wo es nicht um Rollen, sondern um Zwischenmenschliches geht.