In der Mitte der Giessereihalle am Rain 44 in Aarau ist eine Grube vor einem Ofen in die Erde eingelassen. Daneben steht ein dunkler Kasten auf einem Sockel. Hier wird einem Handwerk nachgegangen, das sich seit dem Mittelalter kaum verändert hat. «Heute giessen wir eine Pilgerglocke für das Walliser Kloster St-Maurice», sagt Jari Putignano, Leiter der Giesserei. Dafür sind extra zwei Gemeindemitglieder aus St-Maurice angereist. Sechzig Kilogramm schwer soll ihre «Madeleine» werden. Und bald hell und klar das Lied der Glocke in die Welt hinaus tragen.
Kern und Mantel. «Der Glockenkern wird aus Backstein gemauert und mit einer Lehmschicht geglättet», führt Jari Putignano in den Produktionsprozess ein. Die einzelnen Arbeitsschritte verrichten Giessereitechnologen, vormals Giesser. Über den Glockenkern setzen sie mit einer weiteren Lehmschicht die «Falsche Glocke» und versehen sie mit Inschrift und Verzierungen aus Wachs, welche die Glocke zieren. Darüber kommt der Mantel ebenfalls aus Lehm. Ist dieser ausgehärtet, wird er abgehoben und die «Falsche Glocke» zertrümmert. Dann werden Kern und Mantel wieder zusammengebaut und in der Giessgrube oder im Giesskasten mit Erde «eingedämmt», bis die Form über die Krone hinaus eingegraben und nur noch das Gussloch zu sehen ist. Der Hohlraum zwischen Kern und Mantel bildet die Giessform.
«Wir leben zwar nicht vom Glockenguss allein, doch solange es Kirchen gibt, werden wir Glocken giessen», ist Jari Putignano überzeugt. Zehn bis zwanzig Kirchenglocken stellen sie jährlich in Aarau her. Bekannt ist die Giesserei auch für Kunst- und technischen Guss. Den grössten Teil des Umsatzes generiert das Unternehmen mit Kirchturmtechnik, Läuteanlagen für Kirchenglocken, Turm- und Fassadenuhren und Wartung und Restauration von Kirch- und Glockentürmen.
Sterbestunde Jesu. «Glocken werden traditionell freitags um 15 Uhr gegossen; zur Sterbestunde Jesu Christi», erörtert Vorarbeiter Roland Bolliger. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Markus Müller und Philipp Rüfenacht arbeitet er an der Walliser Pilgerglocke. Sie schmelzen in einem speziellen Herdflammofen bei etwa 1100 Grad die Glockenspeise ein, eine Legierung aus rund vier Teilen Kupfer und einem Teil Zinn. «Die Qualität einer Glocke hängt massgeblich von der Güte des Metalls ab und diese wiederum vom Schmelz- und nachfolgenden Abkühlungsprozess.»
Für den Guss einer grossen Glocke braucht es die Giessgrube. Die Glockenspeise gelangt dabei aus der Ofenwanne über einen Kanal in den Einguss der Giessform. Die kleinere Pilgerglocke entsteht im Giesskasten aus feuerfesten Platten. Die drei Männer tragen dafür ruhig, aber zügig einen glühenden Tiegel mit der brodelnden Glockenspeise in die Giessereihalle und heben ihn mit einem Kran über Kasten und Giessform. «Manche Gemeinschaften beten vor dem Guss und segnen die Glocke», sagt Jari Putignano, «andere singen und musizieren.» Die Walliser sind aufgeregt. Der eine jauchzt. Markus Müller dirigiert den Kran und bringt den Tiegel in Stellung, derweil sich Philipp Rüfenacht und Roland Bolliger positionieren. Mit einer langen, beidseitig geführten Stange kippen sie das glühende Gefäss langsam. Wortlos und routiniert leiten die Männer das flüssige Metall vorsichtig ins Gussloch. Der eine lenkt den Fluss mit einem Stab, der sogenannten Birne, die anderen regulieren den Tiegel. Es brodelt und zischt. Nach wenigen Minuten ist das Schauspiel vorbei. Die Arbeiter verlassen die Bühne.
Trocknungszeit. Gemäss Roland Bolliger dauert das Auskühlen ein paar Tage. Dann wird die Form ausgegraben, mit dem Kran aus der Grube oder dem Kasten gehoben und gekippt. Herausgeschlagen werden Mantel und Kern, und die Glocke wird im Rohguss freigelegt. Geschliffen und poliert, zeigt der erste Anschlag die musikalische Qualität des Instruments. «Hat der Glockengiesser Umfang und Stärke richtig kalkuliert, sind die Anforderungen erfüllt», ergänzt Jari Putignano. Der letzte Arbeitsgang gilt der Ausrüstung mit Joch und Glockenstuhl, mit Klöppel und elektrischer Steuerung. «Die gesamte Produktion dauert wegen der langen Trocknungszeiten je nach Grösse bis zu sechs Monate», weiss Roland Bolliger. «Madeleine» wird also bald vom Klosterturm in St-Maurice läuten. Dies, nachdem sie an einem Feiertag geweiht und feierlich aufgezogen worden ist.
