Es heisst, dass im Jahr 52 der Apostel Thomas Indien erreicht und entlang der West- und Ostküste christliche Gemeinden gegründet hat. Nach der Legende erlitt der Apostel in der Nähe der Grossstadt Chennai (früher Madras) den Märtyrertod. Sein Grab wird bis heute in der Kathedrale von Chennai verehrt. Zwar gibt es in Südindien Gemeinden, die sich vom Apostel Thomas ableiten, doch historisch bewiesen ist seine Gegenwart in Indien nicht. Allen indischen Christen jedoch bedeutet die Verbindung zur apostolischen Zeit sehr viel. Unser modernes Europa hat das Christentum nicht nach Indien gebracht, wie wir häufig annehmen. Es bestanden christliche Gemeinden in Südindien sogar früher als bei uns. Darum ist Indien nicht das typische Missionsland wie zum Beispiel viele afrikanische Länder.
Seefahrer brachten Mission
Belegt ist das Christentum seit der Mitte des vierten Jahrhunderts, als christliche Flüchtlinge aus Syrien und Mesopotamien in mehreren Wellen im heutigen Kerala landeten und sich niederliessen. Die Flüchtlinge blieben in enger Verbindung mit der Mutterkirche, was sie in Indien jedoch isolierte. Zahlenmässig blieben sie unbedeutend und auf die Küstengebiete beschränkt. Die moderne Missionsgeschichte Indiens beginnt um das Jahr 1500, als portugiesische Seefahrer in Kerala landeten und begannen, mit den Einwohnern Handel zu treiben. Mit den Kaufleuten kamen die Missionare. Zunächst wollten sie den Islam zurückdrängen, der sich viel früher ausgebreitet hatte. Die Seefahrer glaubten, den Muslimen und Hindus einen «Dienst» zu erweisen, wenn sie ihnen, oft unter Druck, die Frohe Botschaft verkündeten, um sie durch die Taufe vor ihrem «Aberglauben» und sicheren Höllenstrafen zu bewahren.
Sari statt Kleid
Mit Handelsbeziehungen und Religion kam auch Eroberung. Die Portugiesen, Franzosen und vor allem die Engländer wirkten als Kolonisatoren. Das half der Ausbreitung des Christentums, schlug der Psyche der Inder aber auch tiefe, bis heute ungeheilte Wunden. Viele gebildete Hindus haben eine Aversion gegenüber Christen, weil sie mit den Kolonisatoren paktierten und ihnen (den Hindus) ihre Religion aufdrängten. Im Hinduismus sind Konversionen traditionell unbekannt. Dennoch ist es den Kirchen nicht gelungen, wie in Afrika und Südamerika, in Indien eine markante christliche Präsenz zu schaffen. Der Anteil der Christen in Indien liegt heute bei weniger als drei Prozent der Gesamtbevölkerung. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass in Indien zwar mehrheitlich Hindus (83 Prozent) sowie Muslime (11 Prozent) leben, dass es jedoch Heimat einer Vielzahl von Religionen ist: des Buddhismus, des Sikhismus, der Parsen, der Juden, der Sindhis und anderer Gruppen. Für indische Christen ist es unerlässlich, diese Pluralität anzuerkennen und darin ihren eigenen, unverwechselbaren Platz zu finden. Christliche Schulen und Krankenhäuser sind in allen Teilen Indiens verbreitet und in der gesamten Bevölkerung beliebt und anerkannt. Durch sie übt das Christentum einen weit stärkeren Einfluss aus, als ihre Prozentzahl vermuten lässt. Allerdings muss das indische Christentum entschlossener in die Gesellschaft hineinwirken. Seit den 1950er-Jahren öffnen sich Katholiken und Protestanten dem Hinduismus in Dialogprogrammen. Ein Zauberwort der 1970er- und 1980er-Jahre war «Inkulturation». Das Christentum versuchte, sich auf den Ebenen des Alltags, aber auch in der kirchlichen Praxis den Lebensgewohnheiten und den Riten und der Symbolik der Hindus anzunähern. Das Christentum durfte nicht länger «europäisch» wirken. So tragen indische Christinnen Saris statt ein Kleid; der Gruss ist nicht der Handschlag, sondern «Namaste», die vor der Brust zusammengelegten Hände. Die Kirche betreten alle barfuss, wie die Hindus den Tempel. Die liturgischen Gewänder sind dem Klima und den üblichen Bräuchen Indiens angeglichen. Und häufig werden keine Kerzen, sondern Öllampen (wie in Tempeln) entzündet.
Herausforderung anpacken
Konfrontiert von einer Welle des Hindu-Fundamentalismus, wollen junge Priester, Pfarrer, Ordensfrauen und Laien ein aggressiv-soziales Engagement verwirklichen. Es richtet sich auf die Dalits. Jene Gruppe, die wegen Armut, schulischer Rückständigkeit und ihres niederen Kastenstatus am meisten benachteiligt ist. Sie wirtschaftlich und schulisch zu fördern, vor allem ihnen ein «Gesicht» in der Öffentlichkeit zu geben, ist das wichtige Anliegen. Vorurteile gegen die Dalits betreffend Kastenhierarchie, manuelle Arbeit und Stellung der Frau müssen abgebaut werden. Dieser Kampf zugunsten der Dalits muss nicht nur gegen den Hindu-Fundamentalismus geführt werden, sondern auch gegen die an der eigenen Macht hängende Kirchenhierarchie. Gerechtigkeit, demokratisches Verständnis, Gleichheit unter den Menschen, müssen mehr zum Thema der Auseinandersetzungen der Kirchen werden. So wären Christen das Salz in der Gesellschaft, zu dem die Evangelien sie seit jeher bestimmen.