Pünktlich um zehn Uhr läutet die Kirchenglocke am Rande des Dorfes, begleitet vom Geheul der Schlittenhunde. Holztreppen führen hinauf zur Kirche. Der Turm ist blau wie das Polarmeer, vor dem er thront. Die rote Eingangstür ist mit weissen Kreuzen verziert.
Im Innern der Kirche eröffnet eine lange Fensterfront die Sicht auf Eisberge und Gletscher. Hellblaue Bänke säumen beidseitig den roten Teppich, der zum Altar führt. Kerzen in Leuchtern verbreiten ein warmes Licht. Etwa zwanzig Personen nehmen in der hinteren Hälfte der Kirche Platz. Es ist Ferienzeit, viele Einwohner sind in den Süden verreist. Jetzt erklingt die Holzorgel. Der Gottesdienst in Qaanaaq, einer der nördlichsten Kirchgemeinden der Welt, beginnt.
Auch Jesus hat kalte Füsse. Die Pfarrerin Juaanna Platou (59), eine Inuit mit hohen Wangenknochen, tritt in einem grasgrünen Gewand, das die Farbe ihrer ungewöhnlichen Augen noch unterstreicht, vor die Gemeinde und spricht ein Gebet, natürlich auf Grönländisch. In Westgrönländisch – der Schriftsprache – wie Platou später präzisieren wird. Die Polar-Inuit sprechen Inuktun, einen Dialekt, der nahe mit der kanadischen Inuit-Sprache verwandt ist.
Für die Predigt erscheint die Pfarrerin im schwarzen Talar mit weissem Kragen. Die Melodien der Lieder klingen vertraut. Platou kehrt nun der Gemeinde den Rücken zu und blickt auf das Bild, das über dem Altar hängt. Es ist ein Gemälde des Künstlers Ernst Hansen aus dem Jahr 1930 und zeigt Jesus mit zwei Kindern auf dem Berg Thule. Bezeichnend ist, dass er Socken in den Sandalen trägt. Ein barfüssiger Christus war dem Künstler in dieser Kälte wohl unvorstellbar.
Kampf um Rechte hält an. Die Herkunft des Bildes erinnert an ein dunkles Kapitel in Grönlands Geschichte. Es stammt aus der alten Kirche von Uummannaq, wo die Polar-Inuit während Jahrhunderten gelebt hatten. Als 1953 in Pituffik eine amerikanische Luftwaffenbasis gebaut wurde, mussten die Bewohner des Gebiets zwangsweise ins über hundert Kilometer entfernte Qaanaaq umsiedeln. Bis heute kämpfen sie um ihre Rechte, 1999 erhielten sie eine bescheidene Entschädigung vom dänischen Staat. Grönland ist heute ein autonomer Teil des Königreichs Dänemark.
Gegen Ende des Gottesdienstes faltet die Pfarrerin die Hände: «Ataatarput qilammiusutit, aqqit illernarsili.» «Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name.» Im Gespräch nach der Feier erzählt sie, dass in einem grönländischen Gottesdienst immer auch für das dänische Königshaus gebetet und an Geburtstagen der Königsfamilie die grönländische Flagge neben der Kirche gehisst werde.
Warten auf das Schiff. Juaanna Platou wohnt in einem rotbraunen Haus gleich gegenüber der Kirche. Die Pfarrerin schenkt Kaffee ein und entschuldigt sich, dass sie kein Gebäck offerieren kann. Die Regale im einzigen Dorfladen seien seit Wochen grösstenteils leer. Das Frachtschiff «Royal Arctic Line», das die Ortschaft zweimal im Jahr mit Lebensmitteln versorgt, hat es noch nicht geschafft, durch die meterdicke Eisdecke bis zum 77. Breitengrad vorzudringen.
Seit zwölf Jahren arbeitet Platou als Pfarrerin in Qaanaaq, einer Gemeinde, die fünfeinhalbmal so gross ist wie die Schweiz, die aber nur 800 Einwohner zählt. Schon der Missionar Christian Rasmussen, der Vater des berühmten Polarforschers Knud Rasmussen, betreute Ende des 19. Jahrhunderts in Grönland ein Pfarrgebiet, das sich über 800 Kilometer entlang der Küste erstreckte.
Als Tochter eines Pfarrers ist Platou mit sieben Geschwistern in Westgrönland aufgewachsen. Ihre hellen Augen habe sie von ihrem dänischen Grossvater. Neben Qaanaaq ist sie für drei weitere Dörfer zuständig sowie für die Grönländer, die auf dem Luftwaffenstützpunkt der Amerikaner in Pituffik arbeiten.
Handy ersetzt Jagdgewehr. Zwar gibt es auch in den weit verstreuten Ortschaften Seelsorger, die Gottesdienste, Taufen und Beerdigungen abhalten dürfen. An Weihnachten und Ostern oder für Hochzeiten und Konfirmationen reist Platou aber selber zu den Siedlungen, die bis zu 200 Kilometer entfernt liegen.
Rund zehn Stunden dauert die Fahrt mit den Schlittenhunden über das Meereis nach Qeqertaq, wo die Kirche in der Schule untergebracht ist. Unterwegs muss Platou in einer Jagdhütte übernachten.
Jugendliche werden in Grönland mit dreizehn oder vierzehn Jahren konfirmiert. An Konfirmationen sind die Kirchen bis auf den letzten Platz besetzt. Die Polar-Inuit erscheinen in ihrer traditionellen Kleidung. Die Frauen in mit Perlen bestickten Blusen und hohen Stiefeln aus Seehundehaut, die Männer in Hosen aus Eisbärenfell. In Nordgrönland ist es eine alte Tradition, dass die konfirmierten Burschen ein Jagdgewehr geschenkt bekommen. «Heute ist es immer häufiger ein Handy», sagt die Pfarrerin trocken.
Nun ist es Platous Handy, das klingelt. Während ein paar Minuten spricht sie auf Nordgrönländisch. Seelsorgerische Gespräche sind ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit als Pfarrerin. Alkoholismus, Gewalt und Spielsucht gehören zu den grössten Problemen der grönländischen Gesellschaft, die mit dem kulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte schlecht zurechtgekommen ist. Viele Kinder werden vernachlässigt. Deshalb haben Juaanna Platou und ihr Mann zu ihrer eigenen, mittlerweile erwachsenen Tochter noch die siebenjährige Paniina adoptiert.
Depressionen in der Sonne. Vier Monate dauert im Norden von Grönland die Polarnacht, ebenso lang die Mitternachtssonne. Gerade die Zeit, in der die Sonne nicht mehr untergeht, sei für Jugendliche, die unter Depressionen leiden, schwer zu ertragen und habe schon einige in den Suizid getrieben. «Das schwierige ist, dass die Jugendlichen durchaus glücklich wirken, oft zeigen sie ihre Probleme nicht», sagt Platou.
Die kleine Paniina setzt sich auf den Schoss ihrer Mutter. Sie hat Hunger. Platou geht zum Kühlschrank und holt getrockneten Fisch. Die Polar-Inuit leben noch von der Jagd und vom Fischfang. Doch der Klimawandel und das schwindende Eis, aber auch Fangquoten und Exportverbote haben dramatische Konsequenzen für die letzten Jäger Grönlands. Ihre Zukunft ist ungewiss. Juaanna Platou wird melancholisch und blickt auf die Uhr. Der nächste Termin ruft: Gottesdienst im Altersheim. Oberhalb der Kirche, am Rande des Dorfes. Am Rand der Welt.
