Recherche 25. November 2023, von Astrid Fiehland van der Fegt

Nie wieder ist jetzt

Gastbeitrag

Astrid Fiehland van der Fegt engagiert sich seit Jahrzehnten im interreligiösen Dialog. Das Massaker der Hamas in Israel werde das jüdische Leben auf der Welt verändern, sagt sie.

Es gibt Ereignisse auf der Weltbühne, die einen tiefen Bruch markieren. Für Israel ist der 7. Oktober 2023 solch ein Wendepunkt. Er hat das Land ebenso massiv erschüttert wie die Terrorangriffe vom 9. September 2011 die USA und der als „Zeitenwende“ erlebte russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2023 Europa. Noch ist nicht abzusehen, wie das grösste Massaker an Juden seit der Schoa den Nahen Osten und das Leben von Jüdinnen und Juden überall auf der Welt verändern wird. „Ich habe alle Konzerte abgesagt.“ erklärt ein jüdischer Klarinettist in Berlin. Er könne sich nicht konzentrieren, sein eigenes Leben und das seiner Familie sei nicht mehr dasselbe seit dem „schwarzen Sabbat“, an dem rund 3000 Hamas-Terroristen den Grenzzaun durchbrachen, in mehreren Kibbutzim und auf einem Musikfestival ein beispielloses Blutbad anrichteten und über 240 Geiseln nach Gaza verschleppten. „Wir haben Angst, unsere Kinder in den jüdischen Sportverein gehen zu lassen.“  berichten Eltern in Zürich. Und in Winterthur wird auf offener Strasse ein Mann angespuckt und beschimpft, weil er eine Halskette mit Davidsstern trägt.

„Die Situation ist beunruhigend“, bestätigt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Tätliche Übergriffe, antisemitische Schmierereien und Hetze in den sozialen Medien haben seit Beginn der israelischen Militäroffensive in Gaza sprunghaft zugenommen. Jüdinnen und Juden erzählen, wie alleingelassen und unverstanden sie sich fühlen. „Ich habe den Glauben verloren, mit Argumenten und Fakten etwas verändern zu können.“ sagt der Psychoanalytiker und Publizist Daniel Strassberg im Interview. Solange der Antisemitismus vornehmlich ein rechtes Phänomen gewesen sei, habe er damit leben können. Jetzt trete der latente Antisemitismus aber auch in seinem linksliberalen Freundeskreis offen zutage. Wo ist in dieser Situation der Platz der Christinnen und Christen?

Entschieden antwortet darauf Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende der EKD: „Unser Platz ist an eurer Seite. …Gott ist ein Gott des Lebens, oder er ist nicht Gott. Das ist die Grundgewissheit des Glaubens, und zwar in allen Religionen. Wer diese Wahrheit verlässt – in Hass oder Verblendung – der öffnet das Tor zur Hölle. Es gibt kein Vertun: Massenmord ist Gottlosigkeit. Antisemitismus ist Gotteslästerung. Es gibt keine Rechtfertigung für Judenhass. Und jeder Versuch, das Massaker vom 7. Oktober zu relativieren, ist Antisemitismus.“ Viele kirchliche Gruppen haben sich dem Appell „Nie wieder ist jetzt!“ angeschlossen. Darin spiegelt sich der Lernprozess, der in den letzten Jahrzehnten in den Kirchen stattgefunden hat. Der jahrhundertealte Hass und die Dämonisierung der Juden in christlicher Theologie und Verkündigung haben dem modernen Antisemitismus den Boden bereitet.

Diese Einsicht hat ebenso wie die Wiederentdeckung der gemeinsamen biblischen Wurzeln eine neue Nähe zur jüdischen Gemeinschaft ermöglicht. Doch die steht immer wieder auf dem Prüfstand. Die Debatte um den Nahostkonflikt wird hochemotional geführt. Die islamistische Propaganda nutzt jede Gelegenheit, um Hass gegen Israel zu schüren und ist damit äusserst erfolgreich. In allen Teilen der Welt gehen seit dem 7. Oktober Sympathisanten auf die Strasse, zunächst um das von der Hamas verübte Massaker zu feiern, später, um Israel „Völkermord“ in Gaza vorzuwerfen. Je mehr zivile Opfer unter den palästinensischen Bewohnern des Gazastreifens zu beklagen sind, desto wirkungsvoller ist die Strategie der Hamas, ihren Terror als gerechten „antiimperialistischen Befreiungskampf“ zu präsentieren. Gerade junge Menschen reagieren stark auf die mediale Propaganda. Bereitwillig skandieren sie „From the river to the sea − Palestine will be free!“ Dabei verkennen die meisten, dass die angeblichen „Freiheitskämpfer“ der Hamas keineswegs im Interesse der Palästinenser handeln. Freiheit, Demokratie, Frauenrechte oder auch eine „Zweistaaten-Lösung“ waren nie das Ziel der Hamas, sondern ein Kalifat nach dem Vorbild der Taliban.

Israel hat sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Die regierende Hamas, die zweitreichste Terrormiliz der Welt, trägt die Hauptverantwortung für die Verelendung der Bevölkerung. Statt das Land aufzubauen, investierte sie Milliarden Hilfsgelder (auch aus der Schweiz) in Waffen und den Bau unterirdischer Tunnel. Rücksichtslos missbraucht sie die eigene Zivilbevölkerung als menschlichen Schutzschild. Das erklärte Ziel der Hamas sind die Auslöschung des Staates Israel und noch viele weitere tödliche Anschläge wie dem vom 7. Oktober gegen Juden in der ganzen Welt. Die Zerschlagung der Hamas, die Israel sich auf die Fahnen geschrieben hat, um seine Bürger zu schützen, ist darum alternativlos und langfristig auch im Interesse des palästinensischen Volkes. Nur wenige Palästinenser trauen sich das auszuspreche, es könnte sie das Leben kosten! Zweifellos ist das Leid, das der jüngste Krieg für die Bewohner von Gaza bedeutet, entsetzlich.

Jedes Kind, das in den Bomben umkommt, ist eines zu viel. Ungewiss bleibt, wer das Machtvakuum füllen wird, wenn die Waffen schweigen.  Sehr belastend ist die Situation aktuell für die arabischen Bürger in Israel (20,9 %). Ihnen schlägt viel Misstrauen entgegen, obwohl auch sie zahlreiche Opfer unter den Ermordeten vom 7. Oktober und durch Raketengriffe Getötete und Verletzte zu beklagen haben. Ebenso leidet die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland seit dem Massaker noch mehr unter den Restriktionen der Besatzung und den gewaltsamen Übergriffen rechter israelischer Siedler. Gibt es Hoffnung auf ein Ende der Gewalt im Nahen Osten? Ein klares Ja auf diese Frage fällt schwer. Ein militärischer Sieg über die Hamas-Miliz wird deren Ideologie nicht aus den Köpfen einer ganzen Generation vertreiben. Helfen könnte es, wenn die religiösen Anführer sich auf die wahren Werte ihrer Religion besinnen und ihren Einfluss geltend machen würden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Religion wird pervertiert, wenn muslimische Attentäter laut „Allahu akbar – Gott ist gross“ rufen, als töteten sie im Auftrag Gottes. Sie wird auch pervertiert, wo radikale jüdische Siedler unter Berufung auf die Bibel die Vertreibung der Palästinenser aus dem Land fordern. Der Kampf gegen den Terror fordert die internationale Staatengemeinschaft heraus.

Israel kann den Konflikt mit den Palästinensern allein unmöglich lösen. Das Land ist in sich tief gespalten, auch wenn die gegenwärtige Bedrohung und das Bangen um die Geiseln eine grosse Welle der Solidarität hervorrufen. Die rechtsextreme Regierungskoalition unter Benjamin Netanjahu bereitet allen, die sich seit langem für eine friedliche Koexistenz von Juden und Palästinensern einsetzen, grösste Sorgen um die Zukunft. Umso mehr verdienen sie in diesen Tagen jede Unterstützung. Unter den ermordeten Kibbutzniks waren viele Friedensaktivisten. Trotz aller Desillusionierung: Die oft gehörte Meinung, im Nahen Osten werde es niemals Frieden geben, darf für gläubige Menschen keine Option sein. Immer schon waren die grossen Friedensvisionen der Propheten Israels eine Quelle der Hoffnung. Sie haben das jüdische Volk durch finsterste Zeiten getragen. Auch den Juden Jesus haben sie inspiriert. Durch ihn und alle, die ihm nachgefolgt sind, ist ihre Botschaft in alle Welt gelangt. Darum dürfen sich Christinnen und Christen den „Luxus der Hoffnungslosigkeit“ (Giaconda Belli) nicht leisten. „Denn vom Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem. Und er wird für Recht sorgen zwischen vielen Völkern und mächtigen Nationen Recht sprechen, bis in die Ferne. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Sie werden das Schwert nicht erheben, keine Nation gegen eine andere, und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen. Und ein jeder wird unter seinem Weinstock sitzen und unter seinem Feigenbaum, und da wird keiner sein, der sie aufschreckt, denn der Mund des Herrn der Heerscharen hat gesprochen!“  

Es war Dorothee Sölle, die eine ganze Generation von Theologinnen und Theologen mit ihrer Überzeugung geprägt hat, dass die Hoffnung immer auf zwei Beinen stehen muss: „Jede Hoffnung braucht ein empirisches Bein. Die Hoffnung braucht aber auch ein Bein im Himmel. Wir können uns nicht vollständig von den Erfolgsaussichten unseres Tuns abhängig machen.“ So schwer es angesichts der entsetzlichen Verbrechen am „schwarzen Sabbat“ und angesichts des Leids der Palästinenserinnen und Palästinenser, die in grosser Zahl mit der Hamas nichts zu tun haben wollen, aber jetzt zu Opfern des Geschehens werden, fällt: Ohne die Vision vom Frieden fehlte die Kraft, für eine bessere Welt zu beten und zu handeln. „Wir müssen die Hoffnung bewahren, denn die Hoffnung bewahrt uns. Wenn wir die Hoffnung verlieren, werden wir schwach. Aber wir sind stark, und wir haben schon anderes überlebt.“

Mit diesen Worten ermutigte vor wenigen Tagen ein Hundertjähriger im israelischen Fernsehen seine Landsleute. Wenn ein Überlebender der Schoa die Kraft zu solchen Worten findet, sollten Christinnen und Christen hierzulande sich um so mehr den Luxus der Hoffnungslosigkeit verbieten.

Astrid Fiehland Van der Fegt, 64

Seit 2018 arbeitet Astrid Fiehland van der Fegt als von der EKD entsandte Pfarrerin in der reformierten Kirchgemeinde Davos Dorf/Laret und an der Hochgebirgsklinik Davos. Zuvor war sie 21 Jahre lang Gemeindepfarrerin in Hamburg-Nienstedten. Bis 1995 leitete sie das Evangelische Pilger- und Begegnungszentrum auf dem Ölberg und betreute Theologiestudie­rende an der Hebräischen Universität im Programm «Studium in Israel».