Das Problem mit der christlichen Nächstenliebe

Kommentar

Zwischen Humanität und Abwehrreflexen: Die Schweiz scheint in der Flüchlingskrise gespalten. Wem gilt die Liebe Gottes?

In wenigen ethischen Fragen ist die Bibel so eindeutig. Christen sollen sich schwachen Menschen zuwenden, sollen Gewalt ohne Gegenwehr ertragen, sollen fremde Menschen aufnehmen. «Ich war fremd und ihr habt mich beherbergt» heisst es etwa (Mt. 25, 35), oder: «Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht – so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt» (Hebr. 13, 2).

Gott ist eindeutig. Dieser Eindeutigkeit der Bibel liegt die Vorstellung zugrunde: Gott selber ist eindeutig. Gott ist Liebe (1. Joh. 4, 8) und nicht gleichzeitig Hass, er ist Rettung und nicht gleichzei­tig Verderben, er ist kreativ und nicht gleichzeitig destruktiv. Wer an diesen eindeutigen Gott glaubt, wird auch eindeutig handeln. «Die christliche Ethik», so der Zürcher Neutestamentler Hans We­der, ist «durch eine fundamentale Asymmetrie gekennzeichnet: Die Parteinahme für die, die unten sind.»

Wie wenig solche biblischen Gedanken von die­ser Welt sind, zeigen die letzten drei Monate. Der Gewinn von dezidiert flüchtlingskritischen Par­tei­en − bei eidgenössischen Wahlen genauso wie in Dänemark oder Frankreich − mag unterschiedliche Gründe haben. Aber er signalisiert, dass eine grosse Zahl Wählerinnen und Wähler die Zuwanderung begrenzen wollen. Gegenüber Flüchtlingsströmen an den Grenzen mögen nicht alle mit uneingeschränkter Barmherzigkeit reagieren.

Dem Aufruf Gottes zur masslosen Liebe steht also eine Haltung gegenüber, die sehr wohl masshalten möchte. Zu diesem Ruf nach Mass gehört das ­Pochen auf Einhaltung des Rechtsstaats an der Grenze. Es gehört die Kontingentierung von Flüchtlingen dazu, Finanzierung von Aufnahmeprogrammen und Rückschaffungen für jene, die keine Asylanten sind und nicht auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden.

Menschen sind vieldeutig. Sind also eine grosse − und vermutlich wachsende − Zahl der Schweizerinnen und Schweizer eigentlich gar keine Christen? Ist es unchristlich, sich vor dem Fremden zu verwahren? Darf man die eigene Kultur und den eigenen Wohlstand schützen vor jenen, die verfolgt werden, oder die einfach nur etwas davon abhaben wollen?

Wer so fragt, der verstösst nun seinerseits gegen das Gebot der Barmherzigkeit. Das eigene Handeln für besser zu halten als jenes der anderen, einem selbst das Christsein zu- und es damit anderen abzusprechen, zeugt nicht vom Geist der eindeutigen Liebe Gottes, sondern von Egozentrik, biblisch gesprochen: von Sünde. «Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet», sagt Jesus deutlich (Mt. 7, 1). Die Liebe Gottes gilt allen Menschen, auch jenen, deren Handeln mir fremd erscheinen mag.

Es liegt also zunächst in der Entscheidung jedes Einzelnen, wie er oder sie in der Flüchtlingswelle handelt. Wer sich von Gott getragen und geliebt weiss, mag auch barmherzig sein gegenüber anderen Menschen. Wer Gott glaubt, kann von Eigennutz absehen, kann es aushalten mitzuleiden. Fordern lässt sich diese Haltung nicht. Nicht von anderen Menschen, nicht vom Rechtsstaat, und schon gar nicht von einer säkularen Nation, in der andere Religionen und Atheisten mit Christen zusammenleben. Niemand kann in der Schweiz zum Glauben an Gottes Liebe gezwungen werden, Religionsfreiheit ist auch die Freiheit von Religion, und sie ist Verfassungsrecht.

Dann wäre der christliche Glaube lediglich eine individuelle Haltung, keine politische?

Wahrheit sucht Klarheit. Christen könnten sich für ethische Kriterien starkmachen, die von allen Schweizerinnen und Schweizern geteilt werden. Ein solches Kriterium wäre die Forderung nach Wahrheit. Sie ist biblisch begründet (Mt. 5, 3337), aber auch eine Grundlage säkularer Ethik: Keine demokratische Gesellschaft kann die Lüge als Wert tolerieren.

In der Flüchtlingskrise sollte man sich also immer wieder fragen: Ist das wahr? Zur Unwahrheit kann distanzloser Betroffenheitsjournalismus gehören, wie in Deutschland zu beobachten, der menschlich tragische Einzelfälle zu moralischen Grundsätzen hochstilisiert. Unwahr kann das Argumentieren mit falschen Zahlen sein, parteipolitisches Kalkül, überhaupt jede Instrumentalisierung von Menschen für eigene Zwecke.

In diesen Wochen gesellt sich zur Flüchtlingswelle auch noch die Angst vor Terrorismus. Emotionen, wie Angst, sind ein Teil der Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Zur Wahrheit gehören auch gute Argumente und Respekt. Respekt vor allen Menschen, den Flüchtlingen wie den politischen Gegnern und Andersdenkenden.

Einige Gedanken dieses Artikels beziehen sich auf ein Referat von Prof. Dr. Hans Weder, Zur Hermeneutik des Ethischen, am 3.11.2015 vor der Gesamtredaktion von «reformiert.»