Politik 23. September 2025, von Tilmann Zuber/Kirchenbote

«Wir sind Krisen nicht mehr gewohnt»

Debatte

Im Sommer trat der Solothurner Regierungsrat Remo Ankli zurück. Er spricht über die über dünnhäutige Reaktionen, Gelassenheit und die Rolle der Kirchen in der Gesellschaft.

Sie sind seit Jahrzehnten in der Politik. Wie beurteilen Sie die heutige Politik?

Remo Angle: Die Diskussionen sind härter und kompromissloser geworden, ob international oder in der Schweiz. Persönliche Angriffe nehmen zu. Positiv ist, dass heute jeder mitreden und auf kritische Punkte hinweisen kann. Das ist an sich gut. In den letzten zwanzig Jahren hat sich das stark verändert.

Sie sind auch Historiker. Wie bewerten Sie die heutige politische Lage aus historischer Sicht?

Solche Phasen kommen in Wellen. In ruhigeren Zeiten, wenn es nicht um existenzielle und grundlegende Fragen geht, ist der Ton gemässigter. Heute wird sehr apodiktisch diskutiert und oft schwarz-weiss gedacht: gut oder schlecht, richtig oder falsch. Nach 1989 war die Welt klarer geordnet. Jetzt erleben wir eine Krise nach der anderen. Kaum war die Coronakrise vorbei, folgten die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten.

Diese Krisen verunsichern die Menschen.

Ja, sie machen die Menschen dünnhäutiger.

Haben Sie einen Rat?

Man sollte Gelassenheit üben. Krisen gab es immer. Wir kommen aus einer Epoche heraus, die mit dem Mauerfall 1989 begonnen hat und in der es keine grossen Krisen gab, und wir sind sie deshalb nicht mehr gewohnt. Mit einem weiteren Blick erkennt man: Das ist nicht neu. Diese Perspektive hilft, die Lage besser einzuordnen.

In Ihrer Amtszeit hatten Sie mit den Landeskirchen zu tun. Wie haben Sie die Zusammenarbeit erlebt?

Sehr gut und wertschätzend, auch bei schwierigen Themen wie der Ablösung des Kantons aus den Pensionskassen der Landeskirchen.
Sie haben den Kontakt zu den Kirchen gesucht und die Synoden besucht.

Nähe ist immer hilfreich, besonders in schwierigen Zeiten. Das ist ein bewährtes Rezept.

Neben Geschichte haben Sie auch Theologie studiert. Was raten Sie den Kirchen, die unter Mitgliederschwund leiden?  

Es ist schwer, allgemeine Ratschläge zu erteilen. Ich finde diese Entwicklung traurig und bedauere sie. Der Rückgang der organisierten Religiosität ist ein Verlust für die Gesellschaft. Sie lebt davon, dass Gruppen Werte vertreten und sich engagieren. Wenn nur noch Einzelne handeln, wird es schwierig – auch für den Staat. Zum Ratschlag, der etwas wie ein Werbeslogan klingt: Die Kirchen sollten etwas Einzigartiges bieten, was niemand sonst hat: den Bezug zum Transzendenten. Das Religiöse muss stärker gepflegt werden.

Also die christliche Botschaft in den Mittelpunkt rücken?

Ja, die Kernbotschaft. Heute glauben viele, man könne die grossen Fragen des Lebens – Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn? – mit Technik und Naturwissenschaft beantworten. Doch das ist ein Irrtum. Irgendwann merkt man, dass es nicht so einfach ist.

Am Ende steht jeder allein mit seinen Fragen nach dem Sinn des Lebens.

Ja, und jeder muss seine eigene Antwort finden. Viele suchen sie in der Technik, den Naturwissenschaften oder dann in der Esoterik. Schaut man in Buchhandlungen, sieht man ein riesiges Angebot an Lebensratgebern und esoterischer Literatur, während Theologie und Philosophie kaum vertreten sind. Das ist keine gute Entwicklung.

Heute gibt es viele Einzelkämpfer.

Eine Gesellschaft braucht nicht nur Einzelne, sondern auch Gruppen, die Werte teilen, sich austauschen und Verständnis fördern. Die Kirchen gehören zu diesen wichtigen Gemeinschaften. Sie stärken den Zusammenhalt und bringen die Gesellschaft voran. Solche Grossgruppen gibt es nicht viele, und die Kirche spielt hier eine zentrale Rolle.

Wo sehen Sie die Stärken der Kirchen? In der Sozialarbeit, ihrer Offenheit, Solidarität, Tradition und Kultur?  

In all diesen Bereichen. Aber an erster Stelle steht für mich die Pflege des christlichen Gedankenguts, des Glaubens und der Tradition. Natürlich sind auch das Karitative und das soziale Engagement wichtig.

Warum haben Sie nach Ihrem Geschichtsstudium noch Theologie studiert?

Aus Interesse und Freude. Während meines Geschichtsstudiums habe ich die Theologie entdeckt und den Wunsch entwickelt, sie zu studieren. Ich habe in Basel reformierte Theologie begonnen und in Freiburg katholische Theologie abgeschlossen.

Sie sind Katholik. Was erwarten Sie von Papst Leo XIV.?  

Ich habe keine Erwartungen, sondern ich wünsche ihm Kraft für seine schwierige Aufgabe. Er muss eine Weltkirche führen, die sich verändern sollte, aber gleichzeitig ihr Eigenes bewahren muss. Die Erwartungen sind sehr unterschiedlich. Wichtig ist, Kirchenspaltungen zu vermeiden. Man muss die Spannungen aushalten und verschiedene Geschwindigkeiten zulassen. Europa ist nicht mehr der Mittelpunkt der Kirche. Dieses Bewusstsein sollte bei uns wachsen.