Die EKD-Friedensdenkschrift wird kontrovers diskutiert. Wie beurteilen Sie das Dokument?
Ich bin ziemlich entsetzt. Zwar hatte ich von der Stossrichtung über meine ökumenischen Beziehungen schon vorher gehört. Doch als das Dokument vorlag, hat es mich doch bestürzt: Die Friedensdenkschrift ist eindeutig ein Rückschritt.
Warum?
Zwar versucht das Dokument, noch immer am ökumenischen Leitbild des gerechten Friedens anzuknüpfen. Dieses Leitbild hatten wir im Weltkirchenrat entwickelt, in dem ja auch die EKD Mitglied ist. Und da gab es einen Konsens, dass es in der Friedensethik nicht länger allein um die Frage gehen darf, wann Krieg vielleicht doch legitim sein kann – obwohl wir das Evangelium des Friedens im Neuen Testament haben, die biblischen Visionen von Schalom und wir wissen, dass wir nicht töten dürfen und unsere Feinde lieben sollen. Im ÖRK waren wir uns einig, dass in der Friedensethik das Bemühen viel stärker auf die Friedensbildung mit gewaltfreien Mitteln ausgerichtet sein muss. Die neue EKD-Friedensdenkschrift stellt stattdessen die Frage: Wie hältst Du es mit dem Militär, und was ist, wenn der Aggressor vor der Tür steht?
«Die Friedensdenkschrift ist eindeutig ein Rückschritt»
Für den mennonitischen Friedenstheologen Fernando Enns geht es im Dokument der Evangelische Kirche in Deutschland zu wenig um Theologie und zu viel um Realpolitik.
Ein Symbol der christlichen Friedensbewegung: Die Taube. (Foto: Shutterstock)

Fernando Enns ist Professor an der Universität Hamburg und leitet dort die Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen. Der Mennonit wurde 1964 im brasilianischen Curitiba geboren. Er studierte Theologie in Heidelberg (D) und Elkhart (USA). Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Friedenstheologie und Friedensethik, die Theologie der Historischen Friedenskirchen und die Ökumenische Bewegung. (Foto: epd/Thomas Lohnes)
Ist das angesichts der politischen Lage, in der wir uns befinden, nicht legitim?
Da muss ich zurückfragen: Wo sind wir? Sind wir in Zürich oder in Hamburg in der gleichen Situation wie die Menschen in der Ukraine? Oder in der gleichen Lage wie die palästinensischen Christen? Oder sprechen wir aus der Position einer Kirche in Deutschland, die militärisch gar nicht bedroht ist?
Ein Gefühl der Bedrohung herrscht durchaus auch in Deutschland.
Das ist so. Das Bedrohungsszenario wird uns täglich vor Augen geführt durch die Medien und die Politik. Die Frage ist, ob man sich von diesem Gefühl der Angst leiten lässt. Von gewaltfreien Gruppen in der ganzen Welt, die tatsächlich in Bedrohungssituationen stehen, habe ich zwei Dinge gelernt: Man muss die Angst ernst nehmen, aber man darf sich von ihr nicht leiten lassen. Und zweitens, man muss Gemeinschaft suchen, Beziehungen bilden, sich vernetzen. Die EKD beweist nun aber gerade wieder einen sehr verengten Blick auf die Welt, eine sehr deutsche Perspektive und glaubt, damit eine ethische Orientierung bieten zu können, anstatt sich mit den ökumenischen Geschwistern in aller Welt zu beraten. Ich sehe nicht, wie hieraus tatsächlich eine ethische Orientierung erwachsen kann, die über den derzeitigen politischen Mainstream in Deutschland hinausgeht. Mir fehlt das prophetische Wort, die Ausrichtung am Evangelium, das Einbringen unserer internationalen Vernetzungen.
Die ukrainische Kirche dürfte argumentieren wie die EKD?
Das müssten die Menschen in Kiew entscheiden. Ich sehe unterschiedliche Verantwortlichkeiten. Jemand in der Ukraine, über dem eine Drohne fliegt und der gleich droht abgeschossen zu werden, argumentiert anders, als jemand, der in Hamburg am Schreibtisch sitzt. Wenn wir tatsächlich die gleichen Fragen beantworten müssten wie die Menschen in der Ukraine, wäre es – nach der Logik der Friedensdenkschrift – nur konsequent, nicht nur deutsche Waffen, sondern auch Soldaten in den Krieg zu schicken. Als Kirchen in Deutschland stellen sich uns aber ganz andere Fragen. Welche Rolle wollen wir als bei der Deeskalation spielen? Welche ökumenischen Kontakte sind gerade jetzt wichtig? Wie kommen wir aus dieser vermeintlichen «Sicherheitslogik» wieder heraus und besinnen uns auf eine «Friedenslogik»? Ist denn diese wahnsinnige Aufrüstung tatsächlich alternativlos?
Offenbar nicht?
Ich weigere mich – als bekennender Christ – zu akzeptieren, dass Waffenlieferungen in der jetzigen Lage das einzige Mittel sind, um weiteres Töten zu verhindern. Es sind ja längst nicht alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft. Die Länder der Europäischen Union haben in den zwölf Monaten zwischen Februar 2024 und Februar 2025 für 22 Milliarden Euro fossile Brennstoffe aus Russland bezogen. Bevor nicht einmal die wirtschaftlichen Sanktionen konsequent umgesetzt worden sind, dürfte sich die Frage nach Waffenlieferungen eigentlich gar nicht stellen. Auch müsste man bereit sein, China, Südafrika oder Brasilien als Vermittler zu akzeptieren. Auch die UNO und das internationale Recht müssten gestärkt werden, das Mitspracherecht des globalen Südens. Dafür sollten sich die Kirchen – auch und gerade in Deutschland – einsetzen, statt sehr schlicht die sehr einseitige Analyse einer unmittelbaren «Bedrohungslage» zu akzeptieren und allein davon ihre friedensethischen Aussagen abhängig zu machen.
Hat sich die EKD auf die Seite der Politik geschlagen?
Sagen wir so: Für das, was ich da lese, braucht es keine Theologie. Da kann man genauso gut das Parteiprogramm von CDU oder SPD lesen. Die EKD versucht, ethisch zu rechtfertigen, was politisch ohnehin gerade passiert. Die kritische Funktion der Theologie ist abgeblendet.
Vielleicht ist sie einfach realistisch?
Oh, realistisch will ich auch bleiben, keine Frage. Aber es reicht doch nicht, Dilemmata zu beschreiben, die ja tatsächlich bestehen: Wir haben das Tötungsverbot und zugleich den Auftrag, unsere Nächsten vor Gewalt zu schützen. Die EKD zieht sich auf die Argumentation zurück, dass im Zweifel Gewalt gerechtfertigt ist, weil wir ja ohnehin in einer sündigen, erlösungsbedürftigen Welt leben. Und mit dieser Argumentationsfigur unterstützt sie am Ende sogar die atomare Abschreckung. Massenvernichtungswaffen seien ethisch unter keinen Umständen zu legitimieren und müssten geächtet werden, aber jetzt seien sie politisch eben «notwendig», so die EKD. Was für ein «Realismus» soll das sein?
Ukraine-Krieg als Auslöser für eine neue Friedensdenkschrift
Unter dem Titel «Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick» hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im November eine neue Friedensdenkschrift veröffentlicht. Sie aktualisiert Positionen eines Dokuments aus dem Jahr 2007 vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Lage. Sehr konkret spricht die Denkschrift derzeitige Herausforderungen und Themen wie hybride Kriegsführung, Atomwaffen, Präventivangriffe, Wehrdienst und Rüstungsexporte an. Wie schon 2007 spielt das Leitbild des gerechten Friedens eine wichtige Rolle, dieses stützt sich laut EKD auf vier Pfeiler, den Schutz vor Gewalt, der Förderung von Freiheit, dem Abbau von Ungleichheiten und dem friedensfördernden Umgang mit Vielfalt. Der Schutz vor Gewalt erhält in der neuen Denkschrift mehr Gewichtung als die anderen drei Aspekte, er ist die Voraussetzung für sie. Die Entwicklung der Friedensdenkschrift ging ein mehrjähriger partizipativer Prozess voraus, an dem zahlreiche Gremien und Experten beteiligt waren. Die ethischen Überlegungen sollen sowohl dem christlichen Ideal der Gewaltfreiheit als auch den komplexen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen angesichts der aktuellen Weltlage gerecht werden, wie die EKD selbst schreibt. Mit der Denkschrift will die Kirche Orientierung bieten und Debatten anregen.
Aber wir leben nun einmal in einer komplexen Welt, in der sich gerade viel verändert. Kann da nicht etwas sicherheitspolitisch nötig werden, das ethisch eigentlich falsch ist?
Die EKD beschreibt zwar diese Dilemmata und sagt, die Politik müsse darüber diskutieren. Doch ihre Aufgabe wäre es eigentlich, gerade in diesen komplexen Situationen der Politik ethische Orientierung zu bieten. Die Friedensdenkschrift erzählt zwar von der biblischen Vision von Gewaltfreiheit und Frieden, doch dieser bleibe eben ein Versprechen Gottes, das in unserer sündigen Welt nicht eingelöst werden könne. Damit macht es sich die Kirche zu einfach. Ihr Auftrag wäre es, daran zu arbeiten, wie sich die biblischen Visionen vom Frieden erfüllen können - weil sie doch diese Realität des angebrochenen Reich Gottes bekennt. Das wäre «realistisch».
Für Sie hat die EKD also eher eine Kriegsdenkschrift vorgelegt?
Ja. Es werden verschiedene Positionen abgeräumt, die in der evangelischen Kirche – gemeinsam mit den Geschwistern im ÖRK – schon selbstverständlich waren. Kriegsdienstverweigerung galt als das deutlichere Zeugnis des christlichen Glaubens. Anstatt zumindest den Versuch zu wagen, das «Radikale» und Widerständige des Evangeliums in die Politik einzubringen, sagt man von vorneherein: «Das geht alles nicht.»
Der gerechte Frieden ist ja noch immer relevant in der neuen Denkschrift. Er wird definiert durch Schutz vor Gewalt, Förderung von Freiheit, Abbau von Ungleichheit, Friedensfördernder Umgang mit Pluralität. Sind Sie mit der Definition einverstanden?
In der Ökumene ist es uns wichtig, diesen Begriff weit zu denken und wegzukommen von der Frage, ob Krieg legitimiert werden kann. Da geht es auch um Frieden in der Ökonomie, eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, Frieden in kleineren Gemeinschaften, Frieden mit der Umwelt. Diese Dimension kommt nun bei der EKD nur am Rand vor. Die Friedensdenkschrift legt sich das Leitbild des gerechten Friedens jetzt eher so zurecht, damit es passt: Dem Schutz vor Gewalt mit Gewalt wird alles andere untergeordnet. Damit konterkariert sie aber gerade das gemeinsame Leitbild.
Gewalt allerdings nur als Ultima Ratio.
Deshalb ist die Lehre vom gerechten Krieg ja so «praktisch»: Krieg ist immer das letzte Mittel. Das Problem ist nur, dass man eigentlich nie weiss, wann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem alle gewaltfreien Mittel ausgeschöpft sind und ich zum Schutz meiner Nächsten selbst losschlagen darf. Dreht man die Perspektive um und denkt sich die russisch-orthodoxe Kirche als Absenderin der Friedensdenkschrift, so wäre der Krieg gerechtfertigt, um die Bedrohung durch die Nato abzuwehren. Mit der Lehre vom gerechten Krieg sind letztlich alle Kriege begründbar, inklusive der Kriege im Namen unserer eigenen Religion und Nation. Dafür hat sie immer schon hergehalten, diese Lehre, selbst bei der Ausrottung der Ureinwohner Lateinamerikas. Gerade das glaubten wir eigentlich überwunden zu haben.
Da würde die EKD aber ganz bestimmt nicht mitgehen. Die Denkschrift spricht ja auch von der grossen Friedenshoffnung.
Ja, aber das ist eben alles nur im Bereich der Eschatologie: Sie erfüllt sich dann irgendwann in einer ganz neuen Welt, auf deren Kommen wir keinen Einfluss haben. Aber das Tolle an der christlichen Hoffnung ist doch, dass dieses Eschaton, diese reale Hoffnung bereits in die Gegenwart hineinscheint. Durch Jesus Christus, der so gelebt hat, dass die fantastische Zukunftshoffnung, dass Gott alle Tränen abwischen und einen neuen Himmel und eine neue Erde machen wird, sichtbar und erlebbar wurde. Diese Hoffnung muss uns doch leiten im gegenwärtigen politischen Handeln. Das bedeutet auch, dass ich als Christ sage: «da mache ich nicht mit, wenn alle zu den Waffen greifen». Die Kirche muss doch Kirche sein und zeigen, dass die neue Welt schon begonnen hat und es anders geht, als die Politik uns weismachen will. Es ist die realpolitische Friedenslogik des Evangeliums, die wir einzubringen haben als Kirchen. Wenn eine Kirche dazu nicht bereit ist, sollte sie lieber schweigen.