Die Denkschrift wurde in pazifistischen Kreisen stark kritisiert und in den Medien kontrovers diskutiert. Woran liegt das?
Die Denkschrift umfasst gut 140 Seiten, die Passage zu Nuklearwaffen knapp fünf. Aber Atomwaffen und Kriegsdienstverweigerung sind Themen, die die christliche Friedensbewegung sehr stark geprägt haben, das waren evangelische, identitätsstiftende Momente. Damit erkläre ich mir, dass diese Themen am meisten rezipiert werden. Hinzu kommt, dass wir gerade im Osten Deutschlands aus der Tradition heraus ein Kirchenverständnis haben, dass Kirche traditionell eher im Widerstand zum Staat verortet. Auch vor diesem Hintergrund muss die Kritik verstanden werden. Bezogen auf die Nuklearfrage ist die Denkschrift tatsächlich insofern in gewisser Weise unbefriedigend, als die Situation ja auch denkbar unbefriedigend ist. Das Dilemma wird nicht aufgelöst, weil es derzeit nicht so einfach auflösbar ist. Die Grundsatzfrage mit Blick auf die Denkschrift ist aber doch: Wie viel politische Realität lässt die Kirche in sich hinein?
Manche Kritikerinnen und Kritiker werfen der Kirche vor, mit der Friedensdenkschrift die aktuelle Sicherheitspolitik im Nachhinein zu legitimieren.
Wir legitimieren nichts. Das sieht man alleine schon daran, dass die Denkschrift an vielen Stellen – zum Beispiel bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer konsequenten Klimapolitik, dem Umgang mit Geflüchteten, dem Plädoyer für eine allgemeine Dienstpflicht und vielem mehr – zu ganz anderen Schlüssen als die aktuelle Regierung kommt. Doch in der Spannung zwischen ethischem Prinzip und politischer Notwendigkeit steht das Christentum eigentlich schon immer. Da können wir beim Urchristentum beginnen. Schon da geht es darum, was etwa mit der radikalen Botschaft der Feindesliebe passiert, wenn das Reich Gottes nicht morgen eintritt? Noch stärker mussten Christen nach der konstantinischen Wende mit der Feindesliebe ringen, nämlich in dem Moment, in dem sie Verantwortung übernahmen – in der Politik, aber auch im Militär. Das sind also gar keine neuen Fragen, sondern Fragen, die die Kirche schon immer umtreiben. Und – dies auch nochmal mit einem Blick auf die Rolle der Evangelischen Kirche in der DDR – in einem Rechtsstaat stellen sich diese Fragen nochmals anders als in einem Unrechtsstaat.
Können Sie die Kritik der radikalen Pazifisten denn nachvollziehen?
Ich möchte mir eine Welt ohne Radikal-Pazifistinnen und Pazifisten nicht vorstellen. Sie erinnern daran, wie absurd es ist, Menschen irgendwo hinzuschicken, um sich gegenseitig zu verstümmeln und zu töten. In der Denkschrift gibt es auch ein Kapitel zur Grausamkeit des Krieges. Es gibt keinen gerechten Krieg. Aber wir leben in politisch komplizierten Zeiten. Ethik findet immer im Austausch mit der Wirklichkeit statt. Innerhalb der evangelischen Kirche in Deutschland gab es zum Beispiel eine riesige Debatte über Waffenlieferungen in die Ukraine. Die Menschen wollen Orientierung. Viele haben den Eindruck, in dem Fall sind Waffenlieferungen vielleicht richtig. Aber stimmt das aus ethischer Perspektive? Die Denkschrift entscheidet diese Frage übrigens nicht endgültig, sie sagt, dass Waffenlieferungen keinesfalls ethisch zu verlangen sind, es unter Güterabwägungsaspekten aber ethisch legitim sein kann, sie zu liefern. Die Abwägung muss in der jeweiligen politischen Situation vorgenommen werden. In diese politische Abwägung muss einfließen, dass man sich schuldig auch durch das machen kann, was man nicht tut. Ich halte die starken negativen Reaktionen auf die Denkschrift eher für angstgeleitet.
Inwiefern?
Das ist in gewisser Weise verständlich. Die Weltlage ist komplex. Was kann ich schon tun? Dabei gibt die Denkschrift sehr viel Hoffnung. Eben weil das Dokument die aktuellen Fragen konkret anspricht. Sie zeigt, dass wir alldem nicht einfach ausgeliefert sind, dass es Handlungsoptionen gibt. Es gab und gibt übrigens bei weitem nicht nur Kritik: Auf der EKD-Synode wurde nach der Vorstellung der Denkschrift lange applaudiert. Viele Menschen sind dankbar, dass sich die EKD mit diesen Fragen in angemessener Komplexität auseinandergesetzt hat.