Nigeria steckt in der Gewaltspirale fest

Krieg und Terror

In Nigeria verschlechtert sich die Sicherheitslage laufend. Die Gewalt trifft die Zivilbevölkerung hart und hat viele Gesichter. Religiöse Motive spielen eine untergeordnete Rolle.

Nigeria rückte in den vergangenen Wochen und Monaten vermehrt in den medialen Fokus. Es sind keine positiven Nachrichten, die die Welt aus dem westafrikanischen Land erreichen, sondern solche über Massenentführungen, Terrormilizen, kriminelle Banden und grosse Gebiete, in denen der Zentralstaat nicht mehr für Recht und Ordnung sorgen kann. Gewaltakte gegen Zivilisten sind an der Tagesordnung. Im November entführten im nordwestlichen Bundesstaat Kebbi terroristische Banden 25 Schulkinder, nur ein Tage später weitere 300 und zwölf Lehrpersonen aus einem katholischen Internat im Teilstaat Niger.

Vor rund einem Monat behauptete US-Präsident Donald Trump, die Opfer seien in erster Linie Christinnen und Christen. Diese These greift jedoch zu kurz, ist eindimensional und wird der komplexen Gemengelage eines Staats im Dauerkrisenmodus nicht gerecht. 

Ein deutscher Kenner des Landes und ein Mitarbeiter des Hilfswerks Mission 21 vor Ort bestätigen in den Gesprächen «reformiert.», dass Nigerias Konfliktherde einiges komplexer und verworrener sind. 

Steigende Opferzahlen

Yakubu Joseph koordiniert von der Hauptstadt Abuja aus die Arbeit von Mission 21 in Nigeria. Dem promovierten Geografen und Friedensforscher bereitet der Blick auf die letzten zwei Jahre Sorgen: «Bewaffnete Gruppen haben ihre Aktivitäten in den nördlichen Regionen des Landes überall deutlich erweitert.» 

Joseph spricht von «Banditen und Aufständischen, die bei ihren Angriffen niemanden verschonen». Er verweist auf Zahlen der nationalen Menschenrechtskommission, die für das erste Halbjahr 2025 mindestens 2266 Todesopfer zählte.

Die entscheidende Frage ist, wie stark soziale Konflikte und Verteilungskämpfe religiös aufgeladen sind.
Heinrich Bergstresser, Afrikanist und Journalist

Da die Gewalt in den letzten Monaten nochmals zunahm, geht Joseph für die zweiten sechs Monate von einer «signifikant höheren Zahl» aus. Allerdings beschränkt sich die Gewalt bei Weitem nicht nur auf den Norden. Auch aus dem sogenannten «middle belt» gibt es laufend Meldungen von überfallenen Dörfern, tödlichen Konflikten um Land und Vieh sowie Kidnapping. Aus dem südöstlichen Bundesstaat Benue berichten Augenzeugen von Attacken, bei denen Hunderte von Menschen ihr Leben verloren und grosse Flächen des Farmlands zerstört wurden.

Für die Gewaltakte sind Gruppierungen mit verschiedensten Hintergründen verantwortlich. Ausserhalb Nigerias erregen vor allem Aktionen wie die der Terrorgruppe Boko Haram grosse Aufmerksamkeit. Dabei ist die dschihadistische Organisation nur eine unter zahlreichen Milizen, die Nigeria immer mehr ins Chaos stürzen.

Immer neue Milizen

«Es ist viel komplizierter, als es auf den ersten oder sogar zweiten Blick scheint», sagt Heinrich Bergstresser, Afrikanist und langjähriger Redaktor bei der Deutschen Welle. Schon vor dem Entstehen islamistischer Terrornetzwerke – neben Boko Haram sind unter anderem der IS-Ableger ISWAP und die im ganzen Sahel domininierende JNIM in Nigeria aktiv – breiteten sich bewaffnete Gruppen im Land aus. 

«So bauten regionale und lokale Politiker nach der Gründung der IV. Republik 1999 ihre eigenen bewaffneten Einheiten zur Machtabsicherung auf», erklärt Bergstresser. Und die christliche Ethnie Igbo stehe bereits seit dem Sezessionskrieg um das abtrünnige Biafra (1967–70) in Konflikt mit dem Zentralstaat. Zudem steige die Zahl der Milizen und meist unregulierter privater Sicherheitsfirmen stetig an.

Ein Ziel radikaler islamistischer Gruppen ist es, die Polarisierung zwischen Muslimen und Christen zu vergrössern.
Yakubu Joseph, Nigeria-Koordinator von Mission 21

Generell verlaufen die Konfliktlinien kreuz und quer durch die Gesellschaft. Für Bergstresser ist deshalb klar, dass die eingangs erwähnte trumpsche Ansicht, die Gewalt sei primär gegen Christen gerichtet, eine komplette Fehlanalyse darstelle. Man müsse eher die Frage stellen, «wie stark soziale Konflikte und Verteilungskämpfe religiös aufgeladen sind», sagt der Experte.

Jeder kämpft für sich

Yakubu Joseph zählt im Gespräch dennoch zahlreiche Attacken gegen Christen in jüngster Vergangenheit und in verschiedensten Regionen auf. «Diese Gewaltakte geben vielen den Grund zur Annahme, dass es sich dabei um gezielte Aktionen gegen Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit handelt.» 

Natürlich seien viele Christen Opfer islamistischer Gruppen, aber «das heisst nicht, dass nur Christen umgebracht werden», sagt Joseph. Im Nordosten würden auch viele Muslime von Boko Haram und ISWAP getötet. «Ein Ziel radikaler islamistischer Gruppen ist es, die Polarisierung zwischen Muslimen und Christen zu vergrössern.» 

Ob religiöser Fanatismus, politische Abspaltungswünsche, ethnische Konflikte oder schlicht Fehden um Land: Experten wie Bergstresser und NGO-Mitarbeiter vor Ort wie Joseph sind sich einig, dass bei den Milizen ideologische Aspekte, sofern sie überhaupt vorhanden sind, immer mehr in den Hintergrund rücken und es sich letztlich überwiegend um kriminelle Banden handelt. Ihre Mittel des Terrors sind Entführung, Erpressung, Mord, Öl- oder Landraub. 

Bergstresser sieht den Staat oft überfordert und dessen Gewaltmonopol stark eingeschränkt. Hinzu kämen soziale Verwerfungen. «Die Eliten sind nicht in der Lage, eine gemeinsame politische Strategie zu entwickeln.» In Nigeria kämpfe jeder für sich.

Die Liturgie für den Weltgebetstag

Die Liturgie zum Weltgebetstag vom 6. März kommt diesmal aus Nigeria. Ihr Titel lautet: «Ich will euch stärken, kommt!». Es ist eine Kurzfassung des für dieses Jahr ausgewählten Bibelwortes Jesu «Kommt her zu mir, alle, die mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken» (Mt 11,28). Die nigerianischen Frauen, welche die ökumenische Liturgie erarbeitet haben, thematisieren ihre Belastungen im zunehmend konfliktreichen Alltag. Sie vermitteln darüber hinaus, wie sie trotz widriger Umstände im Glauben Ruhe für die Seele finden. Das Titelbild zum Weltgebetstag hat die nigerianische Künstlerin Gift Amarachi Ottah gestaltet und mit «Ruhe für die Erschöpften» überschrieben.

www.wgt.ch