Politik 25. September 2025, von Felix Reich

Die Zerreissprobe

Konflikt

Die Weltgemeinschaft der reformierten Kirchen ringt um eine gemeinsame Positionierung gegenüber Israel. Die Schweizer Delegation warnt vor einer ideologischen Stellungnahme.

Während in Gaza Krieg herrscht und kein Ende der Gewalt in Sicht ist, ringen die reformierten Kirchen um eine gemeinsame Haltung. Ab dem 14. Oktober findet die Vollversammlung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) in Thailand statt. Das Generalsekretariat legte ein Arbeitsbuch vor, das bereits jetzt zu Kontroversen führt.

Ein düsternes Bild

Darin zeichnen die Autorinnen und Autoren ein düsteres Bild der globalen Machtverhältnisse. Sie fordern, den «christlichen Zionismus», der an der biblischen Verheissung festhält, dass Israel die gottgegebene Heimat des jüdischen Volks ist, als Häresie zu verurteilen.  

Die Stellungnahme hat die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) aufgeschreckt. Deren Präsidentin Rita Famos spricht von einem «ideologischen Papier». Die EKS hat in der WGRK durchaus Gewicht, stellt sie doch mit acht Personen eine der grössten Delegationen.

Die Macht des Imperiums

Die nicht namentlich aufgeführten Urheber des umstrittenen Arbeitsbuchs sehen die Welt von den USA und ihren Verbündeten versklavt. Staaten, die sich «nicht den Diktaten der treibenden Kraft des Imperiums unterwerfen», würden als Schurkenstaaten verunglimpft. Demokratie und Menschenrechte seien so definiert, damit jene Länder kritisiert werden könnten, die das Imperium herausforderten. Als unbeugsame Staaten zumindest mitgemeint sein dürften Autokratien wie Russland, China oder Iran.

Ohne ein Wort zum Terror der islamistischen Hamas zu verlieren, wird das Leid in Gaza als Brennglas beschrieben, das «die tödlichen Fähigkeiten des Imperiums offenbart». Die Palästinenser, die nur nach Freiheit und Lebensunterhalt strebten, würden «als unzivilisiert, barbarisch oder gar terroristisch angesehen». Der Konflikt sei «zum Symbol dafür geworden, was mit der Welt nicht stimmt». Den Zionismus brandmarkt die Arbeitsgruppe als eine kolonialistische Bewegung, die ihre Eroberungen und Vertreibungen mit der Bibel rechtfertige. 

Spiegel der Vielfalt

Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) besteht aus über 230 Kirchen, die rund 100 Millionen Christinnen und Christen vertreten. Ihre Geschichte beginnt 1875, als sich presbyterianische Kirchen aus Eu­ropa und Nordamerika, die sich auf die Theologie des Genfer Reformators Johannes Calvin berufen, zusammenschlossen. Später bildeten sich weitere Organisationen, die erst 2010 in der WGRK aufgingen, als die Vereinigung des Reformierten Weltbundes und der Reformierte Ökumenische Rat fusionierten. 

Ihren Sitz hat die Geschäftsstelle der chronisch unterdotierten Gemeinschaft in Hannover. Als neuer Generalsekretär wurde der indische Pfarrer Philip Vinod Peacock gewählt. Wer im Präsidium auf die Pfarrerin Najla Kassab Abousawan folgt, die der Nationalen Evangelischen Synode von Syrien und Libanon angehört, ist offen.

Der Judaist und Antisemitismusforscher René Bloch hat das Papier für «reformiert.» analysiert. Die Frage, ob es antisemitisch sei, mag er nicht beantworten: Es sei vor allem unlauter und «verkürzt die Weltlage auf einen Konflikt mit Israel als dem grossen Bösewicht». Der Zionismus sei in der Notsituation der Verfolgung entstanden und nicht zuletzt auch von Jüdinnen und Juden umgesetzt worden, die schon lange im Land gelebt hätten.

Extremisten an der Macht

Weil das Papier nicht zwischen der Siedlerbewegung seit 1967 und dem Zionismus, der zur Staatsgründung von 1948 führte, unterscheide, stelle es das Existenzrecht Israels infrage. Deshalb handle es sich um eine extreme Stellungnahme. «Das können wir in einer Zeit des Extremismus von links wie rechts am wenigsten brauchen.» 

Den Friedenswunsch teilt Bloch: «Der Krieg muss aufhören.» Vieles deute darauf hin, dass auch die israelische Armee Kriegsverbrechen begangen habe, sagt der an der Universität Bern lehrende Professor.  In Israel träumten nur wenige Menschen von den Grenzen des biblischen Grossisrael. «Die Minderheit ist klein, aber gefährlich.» Denn die Utopie werde «von rechtsextremen, fundamentalistischen Männern» propagiert, die in der Regierung sässen. 

Bedrohung für Israel

Die Siedlerbewegung bezeichnet Bloch als «Bedrohung für den Staat Israel». Ohnehin liefere die Regierung mit der Kriegsführung in Gaza und der Nähe zu den Siedlern «viele Argumente, um Israel anzugreifen – auch aus einer christlichen Perspektive», sagt Bloch.  Konflikt instrumentalisiert  EKS-Präsidentin Rita Famos fürchtet, dass die Debatte in ideologischen Gräben stecken bleibt, und betont: «Demokratie und Menschenrechte sind Werte, für die der Protestantismus seit jeher einsteht, und keine Waffen des Imperiums.»  

In einer Stellungnahme hat die EKS-Delegation Widerspruch angemeldet. Die Darstellung des Konflikts sei «undifferenziert und theologisch nicht verantwortbar». Der Konflikt um Palästina werde instrumentalisiert, um das Narrativ vom Imperium und dem der «globalen Apartheid» zu untermauern. 

Mehr als Empathie

Die Theologin Susanne Schneeberger, die für die Kirche Bern, Jura, Solothurn mit der EKS-Delegation nach Thailand reist, kann die Kritik am Papier zwar nachvollziehen. Sie ruft aber dazu auf, den palästinensischen Christen genau zuzuhören. Empathie allein reiche nicht aus. «Palästinenserinnen und Palästinenser brauchen Rechte.»   Sie warnt vor schnellen Urteilen, die der Polarisierung Vorschub leisten. «Wir müssen als reformierte Weltgemeinschaft miteinander im Gespräch bleiben, einander zuhören, unterschiedliche Perspektiven aushalten und die Schritte zu Frieden und Versöhnung fördern», sagt Susanne Schneeberger.

Ob aus dem Arbeitsbuch eine Abschlusserklärung hervorgeht, ist ungewiss. Rita Famos hofft, dass die grundsätzlichen Einwände gehört würden und zu einer Stellungnahme führten, die eine echte Grundlage für Verständigung in der reformierten Gemeinschaft sein könne.