Schwerelosigkeit, die sich wie Fliegen anfühlt

Schlusspunkt

Die Sehnsucht nach dem Wasser ist gut dokumentiert in Kunst und Kultur. Schwimmen ist Reduktion aufs Wesentliche und Entschleunigung.

Letzten Winter beobachtete ich beim Frauenabend in einer Schulschwimmanlage eine Schweizerin, die einer jungen Migrantin das Schwimmen beibrachte. Sie mache das ehrenamtlich, erzählte mir die ältere Frau. Kurz überlegte  ich, ob eine der beiden nicht eine perfekte Kandidatin für die  «Mutmacher»-Rubrik wäre. Doch ich wollte sie nicht stören und  meldete mich stattdessen beim Solinetz, das Schwimm-Tandems  organisiert. Gern vermittle sie mir eine Teilnehmerin, sagte die  Geschäftsleiterin. Und stellte den Kontakt zu Lamia her – zufällig  jener Frau, die am besagten Abend schwimmen lernte.

Wie Lamia damals von ihren ersten Schwimmzügen erzählte und  die Schwerelosigkeit beschrieb, die sich wie Fliegen anfühle, berührte mich. Die Sehnsucht nach Wasser ist tief menschlich und gut  dokumentiert in Kunst und Kultur. Bildgewaltig beschreibt Regisseur Luc Besson in «Le Grand Bleu» die mystische Verbindung eines Apnoetauchers mit dem Meer. In «Drei Farben: Blau» schwimmt  Juliette Binoche als Julie der Trauer über ihre verstorbene Familie davon. Und im Bestseller «22 Bahnen» von Caroline Wahl ist das Schwimmen für die Protagonistin Tilda ein wichtiger Ausgleich zum Alltag mit einer schwer alkoholkranken Mutter. 

Lange ein feindliches Element

Das Blau des Beckens, die Lichtreflexionen am Boden, die Leichtigkeit und der Rhythmus beim Atmen: Im Wasser spüre auch ich die Ruhe, die mir im Alltag meistens fehlt. Schwimmen bedeutet die Reduktion auf das Wesentliche: das Wasser und mich. Ähnlich wie Lamia habe ich diese Erfahrung erst als Erwachsene gemacht. Zwar lernte ich das Schwimmen als Kind, allerdings eher schlecht als recht. «Immer den Kopf über Wasser halten» war die Devise meines ersten Schwimmlehrers.  Über Jahrzehnte blieb Wasser ein feindliches Element, nach dem  ich mich dennoch auf merkwürdige Weise sehnte. Dass Schwimmunterricht auch anders geht, sah ich erst bei meinen Kindern. In  einem Kurs für Erwachsene lernte ich schliesslich das Kraulen.

Vor zwei Wochen traf ich die beiden Frauen im Schwimmbad  wieder. Stolz zeigte mir Lamia, wie sie die gesamte Länge mit Brust- und Rückenschwimmen schafft. Wohlwollend gab ihre Tandem-Partnerin Fatima Tipps zu Atmung und Wasserlage. Bevor Lamia  aus dem Schwimmbecken stieg, zeigte sie einigen Frauen,  wie sie auf der Wasseroberfläche schweben kann. Bis ans andere  Ende der Bahn spürte ich ihre Begeisterung. Über das Gelernte – und darüber, dass Wasser trägt. 

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