Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Was bleibt, wenn im Winter alles stirbt

Kindermund

«Die Eisblumen, das sind die Seelen der Blumen, die im Sommer blühen», sagt Bigna. Und Seelen schmelzen nicht.

Dieses Jahr kam der Winter früh. Es ist die Zeit, in der man die Nachbarn durchs geschlossene Fenster grüsst. Als ich Bignas Mutter Chatrina zur Weberei gehen sah, fiel mir auf, dass ich auch Bigna lange nicht gesehen hatte. Ich zog Mantel und Hut an und eilte ihr nach. «Ist Bigna krank? Man sieht sie gar nicht mehr.» Chatrina rieb sich die erfrorene Nase. «Sie hat einen neuen Lieblingsplatz. Not sagt, sie hockt immer in seinem Stall.»

Also ging ich hinunter zu Nots Hof. Bigna sass bei den Kühen im Futtertrog. «Ich habe dich vermisst», sagte ich und bot ihr einen Keks an, den ich in der Mantel­tasche gefunden hatte. Sie versuchte, mit dem Keks einen Jungstier zu füttern. Als er Bigna mit seinem massigen Schädel wegschob, biss sie ein Stück ab, hielt ihm den Rest nochmals hin und sagte: «So geht das. Optimale Fresslust.» Der Stier versuchte den Keks mit der Zunge zu fassen, doch dann fiel er ins Stroh, und der Stier wandte sich ab.

«Bist du den ganzen Tag hier?», fragte ich. Sie nickte. «Ich lerne lesen.» Am Balken über ihr hing ein Stück Pappe. Sie las vor: «UFA-Besamungskalender. Optimale Fresslust und Frucht­barkeit mit UFA-Mineralsalz von Ihrer landwirtschaftlichen Genossenschaft.» Sie las fast flüssig. «Gib zu, das kannst du auswendig.» Bigna kicherte, dann las sie mir die Wochentage vor. «Wir haben ganz viele Bücher», sagte ich, «und bei uns ist es wärmer.» «Ich schreibe selber», antwortete Bigna und zog mich zum Stallfenster. Es war über und über mit Eisblumen bedeckt. Darüber, offenbar mit Spucke und Dreck gemalt, zogen sich Buchstaben, manche sahen aus wie erfunden.

«Lies», forderte sie mich auf. Ich versuchte es, ohne Erfolg. Big­na nahm meinen Finger, führte ihn von unten nach oben von Buch­stabe zu Buchstabe und las: «Lasormas da las fluors.» Die Seelen der Blumen. «Die Eisblumen, das sind die Seelen der Blumen, die im Sommer blühen», erklärte sie,«ich schenke sie dir, für den Keks.» Ich lachte. «Selbst wenn Not mir das Fenster mitgäbe, würden sie zuhause doch gleich schmelzen.» Bigna stutzte, dann sagte sie: «Nein, du irrst dich. Die Seelen, das ist das, was bleibt.»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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