Kindermund 28. Oktober 2022, von Tim Krohn

Jüngster Tag oder auf Atombomben reiten

Kindermund

Bigna findet die Ausweichidee auf eine Töpferwerkstatt gut. Matsch gebe es ja mehr als genug, wenn Putin erst alles in Klump und Asche gehauen hat. Und angefangen habe es auch so.

Als ich gestern den lauen Herbstnachmittag nutzte, um im Garten zu arbeiten, setzte sich Bigna neben mich. «Jon sagt, es gibt Weltkrieg», sagte sie. «Das mag stimmen», murmelte ich, «vielleicht sind wir auch schon mittendrin.» Ich versuchte gerade, eine Zahlenkolonne zusammen­zu­zählen. «Hat denn schon eine Atombombe geknallt? Jon sagt, jetzt ist noch Aufwärmen, Weltkrieg ist erst, wenn die Bombe knallt. Hast du Angst vor dem Weltkrieg?»

Ich schob das Blatt beiseite. «Ich? Na ja, mehr Sorge als Angst. Wir haben es hier ja sehr gut, das wird auch so bleiben. Vielleicht fällt mal der Strom aus, und das Öl geht aus. Vielleicht verdienen wir irgendwann nichts mehr. Aber dass eine Bombe uns tötet oder verseucht, ist eher unwahrscheinlich.» «Und was sorgt dich dann?» Bigna schielte auf mein Blatt. «Der Zustand der Welt. Als Jugendlicher habe ich in der Schule gelernt, dass wir noch zwanzig Jahre zu leben haben. Dann sind die Rohstoffe aufgebraucht und der Wald verseucht, es gibt Hunger und Krieg, die Menschheit stirbt aus. So ist es nicht gekommen, und ich habe mich schon gefreut, dass die Wissenschaft unrecht hatte. Und jetzt stehen wir doch an diesem Punkt.»

«Immerhin bist du jetzt alt», tröstete mich Bigna. «Ja, aber du nicht. Um dich und andere Kinder sorge ich mich. Auch wenn keine Atom­bombe fällt, ist letzthin so vieles kaputtgegangen! Und das ist erst der Anfang. Die Leute lesen keine Bücher mehr, gehen nicht mehr ins Theater, informieren sich nur noch im Internet und werden immer dümmer. Es gab mal Hoffnung, dass die Menschheit aus der Geschichte lernt, das hätte sie von den Tieren unterschieden. Aber die Lehre wäre nicht so süss wie eine süsse Lüge.»

Meine Predigt langweilte Bigna, sie zog mir das Blatt weg und las: «Kosten einer Töpferwerkstatt». «Ich überlege nur, was ich tun soll, wenn ich nicht mehr schreibe.» «Aber das ist die allerbeste Idee überhaupt», rief sie, «töpfern tut man doch mit Matsch, oder? Und Matsch gibt es ja mehr als genug, wenn Putin erst alles in Klump und Asche gehauen hat! Der liebe Gott hat auch so an­gefangen.»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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