Kindermund 29. Oktober 2021, von Tim Krohn

Erntedank oder: Zufrieden im Hungerjahr

Kindermund

Bigna bäckt zum Erntedankfest mit dem Autor zusammen einen Kuchen, der aussieht, «wie das erste Haus der Trabantenstadt, nachdem Asterix und Obelix es angegriffen haben», sagt sie.

Gestern hat Bigna die Festa da racol­ta gefeiert, das Erntedankfest. Sie hängte sich eine Kuhglocke um und setzte sich einen Kranz aus Rosskastanien und Vogelbeeren auf die Locken, so marschierte sie bimmelnd und singend durchs Dorf. Sie klingelte bei allen Bekannten und liess sich he­rein­bit­ten. Sie befragte sie: Was war deine beste Ernte? Was ist missraten? Worauf hoffst du für nächstes Jahr? Dazu liess sie sich Kekse oder Kuchen servieren.

Das hat mir am Abend Jon erzählt, der Schreiner. Denn an unserer Haustür war sie einfach vorbeigezogen. Deshalb passte ich sie heute ab. «Warum wolltest du mit uns nicht feiern?», fragte ich. «Ich wollte schon, doch Mamma hat gesagt, das wäre nicht an­ständig. Weil du ein so schweres Jahr hattest.» «Hatte ich das?» «Du hattest doch den Herzinfarkt.» «Ja, stimmt. Trotzdem finde ich, es war ein gutes Jahr. Während bei vielen die gesamte Obsternte ins Wasser gefallen ist, hat bei uns immerhin der eine Apfelbaum getragen. Mirabellen hatten wir auch und Cassis und Holunder so viel wie noch nie.»

«Davon wird man aber nicht satt», bemerkte Bigna, «und Renata hat mir erzählt, dass ihr wegen Corona immer noch nichts verdient und trotzdem kein Geld mehr von der Regierung bekommt.» Renata ist meine Frau. «Stimmt, doch ich mache ja jetzt diese ayurvedische Diät. Wir alle machen sie. Sie bekommt uns her­vorragend, und Reis und Linsen kosten fast nichts.»

«Bietest du mir deshalb keinen Kuchen an?» Ich lachte: «Wir können einen backen, ich habe ein Rezept für einen Schokoladenkuchen fast ohne Zucker.» Das taten wir denn auch, dabei sangen wir lauthals: «Il gra es fat aint, il sejel, furmaint. Gai Anna, Maria, Chatrina, Fumia, Andrea, Jacob, Joannes, Grischot, sotain tuots in galop!» Das Korn ist geerntet, der Roggen, der Weizen, kommt, Anna, Maria ..., tanzt mit im Galopp!

Der Kuchen geriet in jeder Hinsicht gewöhnungsbedürftig. Bi­gna fand: «Er sieht aus wie das erste Haus der Trabantenstadt, nachdem Asterix und Obelix es angegriffen haben», und wollte nicht mal kosten. Allerdings hatte sie davor schon die halbe Scho­kolade weggenascht.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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