Dank den medizinischen Erfolgen in der Schmerzbehandlung steht heute für viele das Leiden nicht mehr so stark im Zentrum. Hat dies unsere Perspektive als Mensch und Gesellschaft verändert?
Wolfgang Dumat: Auf jeden Fall. Sei es durch die medizinischen Möglichkeiten oder durch unseren Lebensstil. Oder auch durch den Gebrauch von Drogen, wo Schmerz und Leiden ausgeschlossen werden sollen. Schmerz wird von der Mehrheit nicht als etwas Natürliches, was möglicherweise zur menschlichen Existenz gehört, gesehen. Dazu kommt: Wir treten mit dem Ukraine-Krieg und dem Klimawandel in ein Zeitalter ein, in dem der Wohlstand und der technische Fortschritt nicht mehr für alle reichen. Teile der Gesellschaft werden deutlich umlernen müssen.
Kann Schmerz auch ein Lehrmeister sein oder gar heilend wirken? Brauchen wir den Schmerz?
Das ist keine adäquate Frage: Wir haben den Schmerz! Der Schmerz ist Teil unserer Existenz. Er wird möglicherweise besser gelindert werden, er wird jedoch nicht verschwinden. Inwieweit Schmerz ein Lehrmeister sein kann, das ist die grosse Frage in der Schmerzpsychotherapie. Ich erlebe immer wieder Menschen mit chronischen Schmerzen. Diese Betroffenen sollten lernen, ihr Alltagsverhalten und ihre Einstellung gegenüber den Schmerzen zu verändern. Dann wäre der Schmerz ein Lehrmeister. Es ist aber nicht so, dass man immer alles selbst bestimmen kann. Es gibt auch Schmerzen, denen man ausgeliefert ist, und dann braucht man eine gute medikamentöse Schmerzlinderung.