Jan Hus: Vom frühen Reformator zum späten Nationalhelden

Geschichte

100 Jahre vor Luther und Zwingli wandte sich der Böhme Jan Hus gegen das Papsttum. Ähnlich wie der Zürcher Reformator wirkte Hus nicht nur als Prediger, sondern auch als Gelehrter.

Im Juli 1415, 102 Jahre bevor Martin Luther in Wittenberg seine Thesen veröffentlichte und 110 Jahre bevor in Zürich Huldrych Zwingli vor genau 500 Jahren mit der Prophezey einen theologischen Lehr- und Übersetzerkreis begründete, wurde der böhmische Prediger und Reformer Jan Hus hingerichtet und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Von Prag aus war er ans Konstanzer Konzil gereist, um sich und seine Lehre zu verteidigen. Doch er wurde als Ketzer zum Tod verurteilt. Das von König Sigismund zugesicherte freie Geleit war bereits kurz nach seiner Ankunft am Bodensee Makulatur. 

Jan Hus war Rektor der Universität in Prag und spielte eine zentrale Rolle bei der Etablierung progressiver Lehren und Praktiken in Böhmen. Er gilt damit als ein historisch bedeutender Vorläufer jener Theologen, die mit mehr Erfolg und politischer Unterstützung gegen die kirchliche Obrigkeit aufbegehrten und die Reformation anstiessen. 

Predigt und Forschung

War Hus sogar ein Vorbild für Reformatoren wie Luther oder Zwingli? Und welche Parallelen lassen sich zur Zürcher Prophezey ziehen? Dort debattierten Theologen unter sich auf Lateinisch über die Bibelauslegung, bevor sie vor der Gemeinde auf Deutsch predigten. 

Um solche Fragen zu beantworten und sich dem Einfluss von Hus auf die Kirchengeschichte anzunähern, fragt man am besten da nach, wo er einst gewirkt hat: in der 1348 gegründeten Karls-Universität in Prag. Dort wird an spezialisierten Lehrstühlen zu Hus geforscht, etwa von Professor Martin Wernisch. 

Für den Historiker mit Spezialgebiet Reformationsgeschichte ist es von zentraler Bedeutung, dass Hus in der Lage war, seine Predigertätigkeit mit seiner wissenschaftlichen Arbeit überzeugend zu verbinden. «Hus konnte sich damit als aussergewöhnliche Persönlichkeit etablieren», sagt Wernisch im Gespräch mit «reformiert.». 

Insbesondere die Verbindung zwischen Verkündigung und Forschung ist für den Wissenschaftler auch für die Reformatoren des 16. Jahrhunderts charakteristisch. «Sie hätten ihre Wirkung kaum allein als populäre Prediger entfalten können, ohne an der Bildung und Leitung theologischer Schulen mitgewirkt zu haben, aber auch nicht als blosse Akademiker, deren Botschaft den breiteren gesellschaftlichen Schichten nicht zugänglich gewesen wäre.» Das gelte für Hus ebenso wie für die Reformatoren, die 100 Jahre später wirkten. 

Jan Hus war ganz im Sinne eines reformatorischen Grundanliegens ein Verfechter der Übermittlung des Evangeliums in der Alltagssprache des Volkes. In seinem Fall war es das Früh-Tschechisch, dessen Entwicklung in geschriebener Form er stark prägte. 

Erfolgreiche Gottesdienste

In der Prager Bethlehemskapelle soll Jan Hus ab 1402 regelmässig vor Tausenden von Menschen gepredigt haben. Laut Wernisch leistete er unter anderem auch einen bedeutenden Beitrag zur theologischen Literatur Böhmens und zur Verbreitung des tschechischen Gesangs im Gottesdienst, wenn auch nicht in erster Linie durch das Komponieren von eigenen religiösen Hymnen. 

Darüber hinaus wird angenommen, dass Hus Autor einer Abhandlung über die tschechische Rechtschreibung war, die zu seiner Zeit vereinfacht wurde. «Ob später auch eine Bibelübersetzung an der Reihe gewesen wäre, die Hus jedoch nicht mehr realisieren konnte, bleibt im Bereich des Hypothetischen», erklärt Martin Wernisch. 

Gegen die Korruption

Luther und Zwingli kannten die Lebensgeschichte und Reformideen von Hus. Sie entdeckten ihn für sich aber eher schrittweise. Luther tat sich lange schwer mit Hus. «Zwingli wiederum neigte dazu, zu betonen, dass er gar keine Vorbilder zur Nachahmung brauche.» Bekannt sei aber, dass in Zwinglis persönlicher Bibliothek das Werk «Über die Kirche» von Jan Hus stand. 

Es scheint, dass Hus in seinem Wirken gewisse Ähnlichkeiten mit Zwingli und dessen Gelehrtenkollegium Prophezey hatte. Hus soll eine Art formalisierte Predigtschule um die Prager Bethlehemskapelle herum gegründet haben. «Dabei handelte es sich jedoch um ein studentisches Kolleg, dessen Bewohner er in seine Arbeit einbezog», sagt Wernisch. Im Unterschied zu Zürich verfügte Prag bereits seit der Mitte des 14. Jahrhunderts über eine Universität. So war es für Hus nicht nötig, erst auf eine Art Denkfabrik hinzuwirken, wie es Zwingli in Zürich tat. Ein wichtiger Punkt in diesem Vergleich: Auch die Reformtheologie von Hus kennt und formuliert bereits «ein Schriftprinzip», versteht sich als evangelisch. Zudem kritisierte schon Hus unerschrocken Ablasshandel, Ämterkauf und Korruption in der Kirche. 

Inzwischen gilt Hus in Tschechien gilt als eine Art Nationalheiliger. Allerdings ist seine Bedeutung für die grosse Mehrheit der Tschechinnen und Tschechen stärker von geschichtspolitischer denn religiöser Natur. Tschechien gilt als eines der am stärksten säkularisierten Länder der Welt. Von den elf Millionen Einwohnern zählen sich nur 40 000 zur hussitischen Gemeinschaft. 

Freiheitskämpfer und Rebell

Hus ist im kollektiven Bewusstsein eher als Freiheitskämpfer und Rebell verankert. Von der tschechischen Geschichtsschreibung wurde ihm vor allem ab der Zeit der nationalstaatlichen Bewegungen in Europa im 19. Jahrhundert ein gewichtiger Platz in der nationalen Geschichte zugewiesen. Davon unabhängig begegnet man im Gespräch mit Tschechinnen und Tschechen und auch im öffentlichen Diskurs häufig der Auffassung, dass Jan Hus und seiner Bedeutung für die europäische Reformationsgeschichte nicht die verdiente Beachtung geschenkt wird. 

Wernisch geht nicht so weit zu behaupten, dass die Reformation in der Schweiz und Deutschland ohne Hus nicht stattgefunden hätte. «Aber indem der Hussitismus den Boden bereitete, hat er sie vielleicht erleichtert und in ihrer Ausrichtung und im Verlauf seine Spuren hinterlassen», sagt der Prager Kirchenhistoriker.