Schwerpunkt 28. Oktober 2025, von Niklas Raggenbass

Die Jahre im Kloster haben mich reicher gemacht

Mystik

Sie schien mir die Rettung vor meinem Ehrgeiz und meiner Ziellosigkeit zu sein. So trat ich mich selbst suchend ins Kloster ein. Gefunden habe ich viel – Mönch blieb ich nicht.

Als ich vor dem Kloster Engelberg stand, anklopfte und Mönch werden wollte, war einer der Gründe für meinen Entschluss, dass ich es zu Hause nicht mehr aushielt: Weg aus dem stürmischen Zürich, weg von meiner Freundin, weg von dieser Beziehung, von der ich nicht recht wusste, wie ich sie beenden sollte.

Vielleicht ins Kloster eintreten? Als ich meiner Freundin sagte, ich wolle Mönch werden, war dieser Überraschungscoup der Knock-out für die Beziehung. Ich brauchte mich gar nicht mehr weiter zu erklären, alles schien klar: Ab ins Kloster! Als ich dann den Arbeitskolleginnen und -kollegen im Advokaturbüro in Zürich vom Kloster berichtete, meinte einer, dass das Kloster aber eine gar kleine Welt sei. Fast ein bisschen stolz gab ich zurück: «Aber eine tiefe Welt, voller Mystik!» «Was weisst du denn schon von Mystik?», kam die Retourkutsche.

Mystik konkret: Alles verschenken?

Zum Klostereintritt gehörte meiner Meinung nach, dass in dieser neuen Welt nichts mehr gebraucht werde. So hatte ich alles, was ich besass, verschenkt, ausser meiner CD-Sammlung, die nahm ich mit. Ich dachte heimlich, dass ich im Kloster sicher Zeit finden würde, sie zu hören – obwohl ich mich ja eigentlich gerade auch von diesen kleinen Extras lösen wollte. 

Wie viele andere Menschen, die sich in ein Kloster zurückziehen – und von denen ich später einige kennenlernte –, hatte ich vor, etwas in meinem Leben zu verändern. Denn die Devise «alles erobern, koste es, was es wolle», hatte Schiffbruch erlitten. In der Arbeit, im Freundeskreis, bei den einmal gesteckten Zielen war mir alles zu eng geworden oder besser: Ich hatte mich bei vielen Aufgaben masslos überschätzt.

Gäste im Bendiktinerkloster

Der Gast geniesst in den Klöstern eine besondere Stellung, was schon in der Architektur zum Ausdruck kommt. Die Klosterpforte und der Gästebereich sind gut ausgebaut, sogar mit eigener Küche. Schon Benedikt von Nursia, der um 500 nach Christus lebte und den Orden der Benediktiner gründete, wusste, dass die Klöster Anziehungspunkte für unterschiedlichste Menschen sind. So schrieb er in seiner Regel nicht ohne warnenden Unterton: «An Gästen wird es euch nie fehlen.» Der Gast sei ganz besonders herzlich zu begrüssen, führte er aus, und selbst in der Fastenzeit solle er nicht merken, dass das Essen für die Mönche karger ist, denn es könnte ja Jesus Christus selbst sein, der da anklopft. In der Benediktsregel heisst es sogar, man müsse sich vor dem Gast niederwerfen, und dem Pförtner müsse ein erfahrener Mitbruder zu Seite gestellt werden, wenn dieser Hilfe bräuchte.

Dabei hatte es zunächst in meinem Leben so ausgesehen, als ob mir alles wie von selbst in den Schoss fallen würde. Statt nach und nach, Stufe um Stufe, die Dinge anzugehen, irrte ich wie ein hungriger Löwe umher, brach Begonnenes ab, suchte Neues, möglichst Spektakuläres. 

Ich fand keine Erfüllung im langsamen und achtsamen Kennenlernen der eigenen Grenzen und scheute nicht davor zurück, zu verletzen und zu zerstören. Beständigkeit, Respekt vor den anderen und Rückbesinnung auf die eigenen Möglichkeiten waren mir suspekt. Was war meine Wirklichkeit?

Erste Schritte in mystische Welten

Im Kloster nahm ich mir als frisch Eingetretener vieles vor und wollte sehr streng mit mir sein, worauf Abt Berchtold mich etwas auf den Boden herunterholte. Er ermutigte zu kleinen Schritten – oder erst einmal gar keinen –, ganz im Stil des Ordensgründers, der realistisch vor jeder Selbstüberschätzung warnte: «Du musst im Kloster nicht religiös sein und meinen, nur du könntest etwas verändern und bewirken. Wenn du das meinst, dann hör sofort damit auf – doch bleibe ein Suchender, denn das muss dein Ziel bleiben, ein Leben lang.»

Ich hatte ein Buch über die Mystik im Kloster gelesen, das wie ein Schlüssel war, mir selbst näher zu kommen, die enge Tür des Herzens zu öffnen. Ich merkte, dass ich mich nach und nach von mir selbst, von meinem Herzinneren entfernt hatte. Mystik hat viele Schattierungen, da es nicht eine Mystik gibt. Es ist, als ob Mystik eine Lücke ausfüllen würde, wo das fehlt, was zum eigenen Ich hinführt. 

Ob in der Schule, im Freundeskreis, bei der Arbeit oder ganz alleine, beim Joggen, ich bastelte mir aus den vielen Impulsen zur Selbstfindung etwas zusammen.

Ob in der Schule, im Freundeskreis, bei der Arbeit oder ganz alleine, beim Joggen, ich bastelte mir aus den vielen Impulsen zur Selbstfindung etwas zusammen. Vielleicht könnte ich sie «Hausmystik» nennen. Auch wenn sie sehr handgestrickt daherkam, war ich in die Lage, einen Ort zu finden, wo ich aus meinem Lebensschlamassel herausfinden konnte, wo sich eine Stille aushalten liess, um den Stein wegrollen zu können, der mir auf dem Herzen lag.

Spirituelle Klostererfahrungen im Trend

In den letzten Jahren haben die klösterlichen Strukturen und Visionen tatsächlich immer mehr Menschen angezogen, die – anders als ich – nicht Nonne oder Mönche werden wollten, aber Lust auf eine spirituelle Entdeckungsfahrt hatten. Manche kommen als Gäste, andere melden sich zur Mitarbeit oder zum Mitbeten an. 

Klöster empfingen seit jeher Gäste, doch der aktuelle Zustrom an Leuten führte dazu, dass einige Klöster ihre Traditionen hinterfragt und der heutigen Zeit angepasst haben. Eine Neuerung aus jüngerer Zeit ist, dass einige Klöster ihre Gäste den klösterlichen Alltag der Ordensleute direkt miterleben lassen.

Dass sie sich derart neu erfinden können, hängt auch mit der mystischen Tradition der Klöster zusammen. In Klöstern gab es schon in mittelalterlicher Zeit im Rahmen der Mystik grosse Freiheiten. Mystik war so etwas wie ein Code: Bilder, Lieder, Symbole und Texte von Mystikerinnen und Mystikern liessen sich frei verwenden, was mit den biblischen und dogmatischen Vorgaben nicht möglich war. Auch die Mystik anderer Religionen hatte ihren Platz. 

Die Beschäftigung mit der Mystik entfaltete seit jeher eine verändernde Kraft, mit der die strengen klösterlichen Strukturen mitunter überwunden werden konnten.

In der Buchmalerei im ehemaligen Doppelkloster Engelberg, wo Nonnen und Mönche zusammenarbeiteten, kommt die Mystik in all ihren offenen und ungebändigten Ausdrucksmöglichkeiten deutlich zur Geltung. Ein wichtiger Teil war die Buchmalerei, wo die Mönche die Pergamente zubereiteten und schrieben und die Nonnen das Verzieren übernahmen. Das Wort Verzieren mag die wichtige Bedeutung dieser Arbeit nicht ausreichend zu Ausdruck bringen, gerade in einer Zeit, als der Buchdruck, das Fernsehen oder das Internet noch nicht erfunden war. 

Die Buchmalerei ist voll von Figuren, Bildern, Farben und Zeichen, die nicht nur den Text vertiefen, sondern auch eigene Erzählungen anschliessen lassen, die aus der Mystik stammen. Man könnte fast meinen, es seien Parallelwelten, doch sie gehörten zusammen. Die Beschäftigung mit der Mystik entfaltete seit jeher eine verändernde Kraft, mit der die strengen klösterlichen Strukturen mitunter überwunden werden konnten. 

So waren Bilder vom Fliessen der Quellen, zerstückelnden Körperteilen, Brennen der Wolken, den fantasievollen Tieren und Pflanzen oder der Gegenstände fremder Farben, neue Ausdrucksmöglichkeiten. Es war eine Sprache, mit der ein neuer Zugang zu sich und anderen gefunden werden konnte. 

Ein Stück Kloster bleibt auch in der «Welt»

Nach vielen Jahren als Benediktiner entschloss ich mich, das Kloster wieder zu verlassen. Ich ging nicht ohne Trauer, denn es war mir nicht geglückt, Mönch zu bleiben. Dennoch ging ich bereichert durch viele Begegnungen mit den verschiedensten Menschen und unzählige Erfahrungen.

Ich nahm sozusagen etwas von der Klosterwelt mit, gerade so, wie wir es in Besinnungstagen mit Gästen eingeübt hatten, getragen von einer Mystik, die auch heute noch beschützend und befreiend wirkt. Wichtig ist es geworden, sich Zeit zu nehmen auch im scheinbar Unbedeutenden und Kleinen etwas vom fliessenden Feuer zu spüren, im abgebrochenen Stein zum Ursprung zu finden, im Geruch des Mistes, der auf den Feldern verteilt wird, den Kreislauf des Lebens zu bejahen, im reissenden Sturm die Gelassenheit zu bewahren, im grössten Lachen der Teufel zu schlafen und der grösste Erfolg einer Arbeit, kann auch ohne mich bewirkt werden. 

Aus dem Chaos ist eine neue Welt entstanden – wie es im ersten Buch Mose heisst –, und viele der Steine, die zuerst spitzig und störend waren, sind heute stützende Wegmarken, die mein Ich prägen. Heute kann ich mich annehmen, mein Herz ohne Angst öffnen und weiterhin ein Suchender bleiben, als «weltlicher Mönch», bereit zu hören. 

Dazu lädt uns schon das erste Wort aus der Klosterregel des Heiligen Benedikt ein: «Obsculta o fili et inclina aurem cordis tui – höre, mein Sohn, und neige das Ohr deines Herzens!»