Er gehört fast schon zum Inventar der Churer Bahnhofshalle. Unübersehbar steht dort Heini Hassler mit der aktuellen Ausgabe des Strassenmagazins «Surprise» in der Hand und einer roten Kappe auf dem Kopf. Neben ihm ist sein rotes Wägelchen mit dem Heftvorrat platziert.
Geduldig, unaufdringlich, aber präsent wartet der 66-jährige Strassenverkäufer auf Kundschaft. Fünf Tage die Woche, oft fast den ganzen Tag lang. «Das Magazin ‹Surprise› finde ich eine gute Sache», sagt der gebürtige Domat-Emser. Er fühlt sich sichtlich wohl in der Surprise-Familie, in der Dazugehören grossgeschrieben wird. Und natürlich bietet Surprise mit dem Verkauf des Strassenmagazins für Menschen, die keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zum ersten Arbeitsmarkt haben, auch die Möglichkeit, Geld zu verdienen.
Von den acht Franken, die das zweimal monatlich erscheinende Heft kostet, landen Fr. 3.70 auf dem Konto des Rentners, 30 Rappen gehen an die AHV.
Heini Hassler verkauft pro Ausgabe 100 bis 120 Hefte. Den Verdienst von etwa 600 Franken monatlich kann der frühere Hilfsarbeiter und Pferdestallpfleger gut gebrauchen. Denn seine schmale AHV-Rente und die Ergänzungsleistungen decken gerade mal das Nötigste, was er zum Leben braucht.
Fussball und Singen
Zur Regionalgruppe Zürich – sie betreut auch Chur – gehören rund 120 Strassenverkäufer und -verkäuferinnen. Der von Armut betroffene Hassler ist überaus froh, Teil der Surprise-Gemeinschaft zu sein.
«Ich fühle mich geehrt», sagt er, seine Stimme klingt jetzt fast feierlich, «bei Surprise dabei sein und Hefte verkaufen zu können.» In den sechs Jahren seiner Mitarbeit seien denn auch «Kollegschaften entstanden», wie Heini Hassler es nennt. Zudem spielt der Strassenmagazin-Verkäufer im Strassenfussball-Team mit und singt inzwischen in einer kleinen Gesangsgruppe von Surprise, die nicht zu verwechseln ist mit dem Surprise-Strassenchor in Basel. Das Jammern liegt Hassler fern, obwohl ihm seine mittlerweile überstandene Epilepsie – ihn plagten bis zu seinem 16. Lebensjahr bis zu dreizehn Anfälle pro Tag – kein einfaches Leben beschert hat.
Blick nach vorn
Neun Jahre hat Hassler in Chur in der Werkstätte ARGO-Stiftung, die geschützte Ausbildungs- und Arbeitsplätze bietet, gearbeitet, danach konnte er dank Beziehungen in die Privatwirtschaft wechseln. Dort arbeitete er zunächst als Hilfsarbeiter im Stahl- und Tunnelbau. Als das Unternehmen Konkurs anmelden musste, kam Hassler im benachbarten Bonaduzer Baugeschäft unter. Dort reinigte er 33 Jahre lang die Pferdeställe der Besitzerfamilie.
An sich hat ihm die Stallarbeit, umgeben von Rössern, Bergen und Natur, immer Freude bereitet. Doch als die Besitzerin der Pferde Hassler keinen weiteren Stallgehilfen zur Seite stellen wollte, quittierte der drahtige Bündner im Alter von 64 Jahren seinen Dienst. 20 Pferdeboxen allein sauber zu halten, überstieg seine Kräfte. «Das konnte ich allein nicht schaffen», resümiert der Churer ohne Groll.
Olympische Spiele in Alaska
Nach Highlights in seinem Leben gefragt, muss der Surprise-Mann, der seit 48 Jahren im Churer Behindertensportverein aktiv mitmacht, nicht lange überlegen: als Teilnehmer im Eiskunstlauf an den Special Winter Olympics 2001 in Anchorage, Alaska, erinnert er sich mit leuchtenden Augen.
Auch an den Besuch damals von Alt-Bundesrat Adolf Ogi: «Für die gesamte Schweizer Delegation war im Hilton-Hotel reserviert – schöne Erinnerungen, die einem für das ganze Leben bleiben.» Ein weiterer Höhepunkt war die Fussball-Homeless-Weltmeisterschaft 2024 in Seoul, an der Hassler mit 65 Jahren als Torhüter des Schweizer Surprise-Teams teilnahm. Bei all den Aufs und Abs im Leben weiss sich Heini Hassler stets im Glauben getragen. «Würde ich nicht an Gott glauben, ginge es mir heute ziemlich sicher nicht so gut.»
Zweite Taufe
Religiös beheimatet ist der Katholik allerdings nicht mehr in der Landeskirche, sondern beim ICF, einer nach eigenen Angaben überkonfessionellen Freikirche auf biblischer Grundlage. Heini Hassler hat dort Anschluss gefunden. «Es ist die Kameradschaft, die mich anspricht.»So sehr, dass sich Hassler im letzten Jahr sogar noch einmal hat taufen lassen. Durch seine erneute Taufe – sie wird von den christlichen Kirchen aus theologischen Gründen nicht anerkannt – habe er seine Epilepsie definitiv hinter sich lassen können. Und bei finanziellen Schwierigkeiten helfe der ICF ihm auch, berichtet er.
Auch die gemeinnützige, unabhängige Organisation Surprise unterstützte ihn einmal mit einem Vorschuss: «Als ich eine Rechnung nicht zahlen konnte. Ich habe alles zinslos zurückzahlen können», sagt er dankbar. «Das ist nicht selbstverständlich.» Und so steht Heini Hassler auch am kommenden Tag wieder unverdrossen mit seinem roten «Surprise»-Wägelchen in der Churer Bahnhofshalle und wartet mit dem neusten Heft auf seine Kundinnen und Kunden.