Ein riesiges aufgeschlagenes Buch erhebt sich mitten auf dem Kornhausplatz in St. Gallen. Zwischen den überdimensionalen Seiten sitzen Menschen aus verschiedenen Ländern auf Hockern im Kreis. Sie reden über ihre Lieblingslektüre, erzählen, was sie an Büchern tröstet, inspiriert, beflügelt.
Der Ukrainer Vladyslav Shmelkov trägt Anzug, die Hände gefaltet auf den Knien. Wenn er über Hermann Hesse spricht, leuchten seine Augen. «Siddhartha» habe ihn besonders beeindruckt, die Suche nach sich selbst, die Brüche und Aufbrüche: «Ich habe es auf Russisch gelesen und mich in dieser Entwicklung wiedergefunden.» Seine eigene Lebensbahn hat ihn aus Cherson in die Schweiz geführt und von der Arbeit als Marineingenieur in die Unsicherheit der Flucht. Heute wohnt er bei einer Gastfamilie, hat an der Fachhochschule Ost einen Master absolviert und ist auf Stellensuche. Er sei sehr dankbar und wolle etwas zurückgeben. «Und anderen Mut machen, die Ähnliches durchleben», sagt Shmelkov.
Diese Szene ist Teil der «Tour de Suisse der Menschlichkeit», einer mehrjährigen Ausstellungstour der Schweizerischen Flüchtlingshilfe in Zusammenarbeit mit Caritas, Heilsarmee und dem Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche (Heks). Herzstück ist ein begehbares Buch, das in Luzern, Lausanne, St. Gallen, Bern und Zürich Station macht. Die Texte, Filme und Veranstaltungen erzählen von Flucht, Aufnahme und Zusammenleben. Ziel ist es, Begegnungen zu ermöglichen und damit Vorurteile abzubauen.
In St. Gallen ist an diesem Nachmittag das Heks mit seinem Begegnungsprojekt «MEETeinander» zugegen. Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund sind dazu eingeladen, sich über das Lesen auszutauschen und so Deutsch zu sprechen und zu üben. «Wir schaffen Räume, in denen Begegnung auf Augenhöhe möglich wird», betont Gruppenleiterin Natalie Strässle Baumann vom Heks.
Der Trost der Literatur
Mit von der Partie ist auch Fatma Arig, eine 36-jährige Kurdin mit Pagenschnitt und wachem Blick. Sie ist Lehrerin und Aktivistin. In der Türkei setzte sie sich für Frauenrechte ein und geriet dabei ins Visier der Behörden. Vier Jahre verbrachte sie im Gefängnis, ehe sie 2022 in der Schweiz Asyl erhielt. Heute lebt sie in St. Gallen und lernt intensiv Deutsch. Ihre Stimme bleibt fest, wenn sie aus ihrem Leben erzählt. Sie hofft, in der Schweiz bald wieder unterrichten zu können. «Heks MosaiQ» unterstützt sie dabei, ihre Ausbildung anerkennen zu lassen und im Schulsystem neue Chancen zu erhalten. Sie gibt «Frida Kahlo: Ein Leben für die Kunst» von Rauda Jamis in die Runde.
Jetzt ist eine Mutter aus der Türkei an der Reihe. Jeden Tag liest sie mit ihrem Sohn mindestens eine halbe Stunde. «Das gibt uns Halt», sagt sie. Bücher sind für sie eine Brücke, hinein in die neue Sprache, ein neues Leben. Die Kurzgeschichten des türkischen Autors Mustafa Ulusoy seien ihr in schwierigen Zeiten trostspendend gewesen.
Danach löst sich die Gesprächsrunde auf. Zwischen den Zeilen des begehbaren Buchs wird erfahrbar, was die Tour de Suisse der Menschlichkeit sichtbar machen will: dass hinter jedem Fluchtschicksal eine Stimme, ein Gesicht und ein Lebensweg stehen.