Recherche 25. März 2024, von Marius Schären

«Das Thema Sicherheit hat enorm an Bedeutung gewonnen»

Nothilfe

Wann er selbst im Einsatz um sein eigenes Leben gefürchtet hat und wie das Thema seine Arbeit heute bestimmt: Das sagt Heks-Auslandleiter Bernhard Kerschbaum im Interview.

Sie begannen Ihre Berufslaufbahn in den 90er-Jahren bei der Dresdner Bank. Jetzt sind Sie Leiter Globale Zusammenarbeit und Geschäftsleitungsmitglied bei Heks und haben unter anderem für eine Flüchtlingsorganisation selbst mehrere Jahre in Afghanistan und Sri Lanka gelebt und gearbeitet. Was bewegte Sie, diesen Weg einzuschlagen?

Bernhard Kerschbaum: Das kann man sich tatsächlich fragen bei einem gelernten Bankkaufmann, der danach Wirtschaftswissenschaften studierte … Es gab hauptsächlich zwei Auslöser. Den ersten, als ich 21-jährig alleine Indien und China bereiste und konfrontiert wurde mit krassen Gegensätzen zwischen tiefster Armut und grossem Reichtum. Den zweiten, als ich bei einem freiwilligen Einsatz in einem afghanischen Flüchtlingslager in Pakistan sah, wie die Menschen dort lebten. Dafür hatte ich von 1998 bis 2000 das Studium unterbrochen. Und es hat mich so stark beschäftigt, dass ich mich in der Armutsbekämpfung und für globale Gerechtigkeit einsetzen wollte. 

Wie machten Sie das nach dem Studium?

Zuerst arbeitete ich eine Zeit lang bei einer Entwicklungsbank. Aber das stimmte doch nicht für mich, es kam mir vor wie ein goldener Käfig. Schliesslich wechselte ich zur Flüchtlings- und Nothilfe Organisation ZOA. Meine Frau und ich entschieden 2006, mit unseren damals ein- und dreijährigen Söhnen nach Afghanistan zu gehen. Das wurde eine nicht einfache, aber gute Zeit – vor allem, weil wir nahe bei den Menschen waren und sehen konnten, was unsere Arbeit Positives bewirkte. 

Gut sieben Jahre lebten und arbeiteten Sie dann in Afghanistan und Sri Lanka. In welchem Moment hatten Sie am meisten Angst um Ihre eigene Sicherheit?

Gott sei Dank nicht so oft. In der Zeit in Afghanistan verschlechterte sich jedoch die Sicherheitslage stark, wir konnten nicht mehr zu allen Projekten ins Land hinausfahren. Strenge Sicherheitsprotokolle galten schon damals. Doch dann gab es in der Hauptstadt Kabul, wo wir wohnten, während eines Mittagessens mit meinem Chef eine gewalttätige Demonstration. Es kam zu Ausschreitungen, Schüsse fielen, und der Demonstrationszug kam in unsere Richtung. Wir versteckten uns, flüchteten aufs Dach, waren gegen sieben Stunden da festgesetzt, bis wir abgeholt werden konnten. Damals fürchtete ich um mein Leben.

Bernhard Kerschbaum, 51

Bernhard Kerschbaum, 51

Der ehemalige Banker und Wirtschaftswissenschaftler aus Deutschland arbeitet seit elf Jahren bei Heks, seit sechs Jahren als Leiter des Bereichs Globale Zusammenarbeit und Mitglied der Geschäftsleitung. Zuvor war er Leiter der Abteilung Europa/Asien und kirchliche Zusammenarbeit. Erste Erfahrungen in der Arbeit für NGOs machte er als Freiwilliger von 1998 bis 2000 in Pakistan. Nach dem Studium war er vier Jahre bei einer Entwicklungsbank tätig, danach sieben Jahre bei der Nothilfe-Organisation ZOA (Niederlande).

Aber es war nicht direkt während eines Einsatzes.

Nein. Eine Stärke der meisten NGO ist ja, dass sie bei der Planung der Einsätze sehr eng mit Einheimischen zusammenarbeiten. Diese wissen meist gut, wann und wo es gefährlich wird und wann nicht. Ausserdem sind gerade in Afghanistan Gäste etwas Heiliges. In den Dörfern habe ich mich immer sicherer gefühlt als in der Hauptstadt Kabul.

Welche Bedeutung hat das Thema Sicherheit heute für Sie in Ihrer Arbeit als Auslandleiter?

Das hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen – leider. Heks hat unterdessen rund 800 Mitarbeitende in 30 Ländern, dazu kommen etwa hundert Partnerorganisationen mit noch einmal vielen Mitarbeitenden. Es ist also eine grosse Verantwortung zu entscheiden, wie wir wo arbeiten wollen. Das hängt natürlich damit zusammen, dass viele Länder aufgrund von politischen, ökonomischen und klimatischen Krisen instabiler geworden sind und sich die entsprechenden Verhältnisse verschlechtert haben. Hinzu kommt: NGOs sind heute von Konfliktparteien weniger respektiert und werden eher sogar zur Zielscheibe. Und trotzdem braucht es genau wegen all dem NGOs. Heks ist auch deshalb in sechs der zehn Länder mit den wohl komplexesten Krisen tätig, wie beispielsweise die Demokratische Republik Kongo und Venezuela. 

Wie haben Sie auf die Entwicklung bisher reagiert?

Wir haben sehr viel in die Sicherheitsdispositive investiert in den vergangenen Jahren. Es gibt Sicherheitspläne für jedes einzelne Land, abgestimmt mit externen Fachleuten, die werden mindestens jährlich aktualisiert. Alle Länder werden auch laufend in Risikokategorien eingestuft. Zusätzlich sind wir einer Reihe von Sicherheitsnetzwerken angeschlossen, wo Informationen und Warnungen geteilt werden und ein Erfahrungsaustausch erfolgt. All das hilft auch, sich für Sicherheitsfragen zu sensibilisieren. Es entsteht ein Sicherheitsbewusstsein, eine Sicherheitskultur.

Uns war es einfach wichtig, da zu sein und Zeit mit ihnen zu verbringen, auch mit den anderen Mitarbeitenden vor Ort. Dem Zuhören und Trauern viel Raum zu geben, war sehr wichtig.

Und wie bereiten Sie sich auf schlimme Fälle wie den in der Ukraine vor?

Dafür haben wir ein Krisenstabsprotokoll etabliert. Dazu gibt es auch alle zwei, drei Jahre ein Training durch eine externe Firma. Da wird eine Simulation durchgeführt beispielsweise mit einer Entführung von Mitarbeitenden. Auch das schafft Sensibilisierung und Handlungsfähigkeit. Wir analysieren zudem sämtliche Sicherheitsvorfälle, beispielsweise auch Evakuationen von Mitarbeitenden aus medizinischen Gründen. 

Wie war es für Sie, als Sie die Nachricht vom Angriff auf Ihre Mitarbeitenden in der Ukraine erhielten?

Die Information erhielt ich bei einem Abschiedsapéro für eine Mitarbeitende. Im ersten Moment war ich geschockt, doch dann kippte sofort der Schalter zum Handeln um: Krisenstab versammeln im Büro der Zentrale in Zürich, alle möglichen Informationen zusammentragen, sehr schnell die Evakuation der Betroffenen über Nacht planen, Abreise in die Ukraine planen. Das erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Krisenstab in der Ukraine, wir mussten mit den Familien der angegriffenen Mitarbeitenden reden, mit den Behörden. Erst später kam dann die grosse Trauer hoch um die beiden Verstorbenen. Das war sehr schwer zu verarbeiten. 

Was haben Sie bei Ihrem Besuch danach dort erlebt?

Drei Tage nach dem Angriff reisten wir zu dritt in die Ukraine. Viel Zeit verbrachten wir im Spital, bei Besuchen der Verletzten. Die einen wollten reden, andere nicht. Uns war es einfach wichtig, da zu sein und Zeit mit ihnen zu verbringen, auch mit den anderen Mitarbeitenden vor Ort. Dem Zuhören und Trauern viel Raum zu geben, war sehr wichtig. Daneben hatten wir Administratives zu erledigen mit der Botschaft, der UNO, zudem tauschten wir uns mit anderen NGOs aus.

Heks in der Ukraine

Das Programm in der Ukraine ist finanziell zurzeit das grösste des Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks). Es umfasst Büros in Odessa, Mykolajev, Kharkiv, Sloviansk, Dnipro und Kiew. Dort arbeiten 98 Menschen (83 aus der Ukraine, 15 internationale Mitarbeitende). Die eingesetzten Mittel beliefen sich 2023 auf 16 Millionen Franken, etwas mehr als in der Demokratischen Republik Kongo, wo letztes Jahr 15 Millionen Franken eingesetzt wurden (193 Vollzeitstellen). Diese beiden Länder sind mit Abstand die grössten Engagements von Heks, sowohl in Bezug auf die eingesetzten Mittel wie auf die Zahl der Mitarbeitenden.

Heks war in der Ukraine bereits vor dem Krieg mit kleinen Projekten der kirchlichen Zusammenarbeit in Transkarpatien aktiv. Erst zu Beginn des Krieges hat HEKS eine eigene Präsenz zunächst in Odessa eröffnet und ist seither stark gewachsen. Das Programm hat keine begrenzte Laufzeit.

Wie ist das, permanent diese oft komplexen Situationen bezüglich Sicherheit einzuschätzen, abzuwägen und zu entscheiden, wo wie gehandelt werden soll?

Das ist sicher nicht einfach. Je mehr Mitarbeitende es sind, desto grösser wird das Risiko. Das Gute ist: Entscheidungen trifft niemand allein. Wir wägen vorsichtig ab, alle Betroffenen vor Ort werden miteinbezogen, wir tragen gemeinsam die Verantwortung. Und Einzelne werden angehört – so haben wir das «right to refuse», also das Recht jedes Mitarbeitenden, einen Einsatz zu verweigern, wenn man sich nicht wohlfühlt. Aber zugleich haben wir kein «right to remain», kein Recht zu bleiben. Das heisst, ob ein Rückzug erfolgt oder nicht, entscheiden nicht die Mitarbeitenden vor Ort, sondern die Verantwortlichen. Und das kann sehr hilfreich sein, wenn es von aussen entschieden wird. 

Wie geht es in der Ukraine jetzt weiter?

Die Krisenstabarbeit geht jetzt zu Ende. Wir schauen – auch mit psychologischer Unterstützung –, wie es uns geht, was wir erlebt und gefühlt haben, was wir gemacht haben, wir tauschen uns aus. Und wir analysieren alles genau und schauen, was wir allenfalls verändern müssen. 

Können Sie dazu schon was sagen?

Grundsätzlich ist einfach klar, dass wir uns weiter in der Ukraine engagieren wollen. Die Teams vor Ort haben diesen Wunsch sogar besonders stark. Ihnen gilt mein grosser Respekt, und sie wollen wir unterstützen, so gut wir können. Denn solange sie die Menschen vor Ort unterstützen wollen, sollten wir das tun. Konflikte beenden können wir nicht. Aber wir können einzelnen Menschen beistehen und ihnen helfen.