Herrscht in Nordirland ein religiöser Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken?
Duncan Morrow: Das wäre eine vereinfachende Sichtweise. Katholiken und Protestanten haben sich nie wegen der Frage des Abendmahles oder der Verehrung von Maria bekämpft. In Nordirland sind Religion, Politik und Wirtschaft eng miteinander verknüpft.
Weshalb?
Im 17. Jahrhundert brachte Grossbritannien protestantische Siedler in diese Region, die mehrheitlich von Katholiken bewohnt war. Diese koloniale Ausbreitung brachte massive Veränderungen im Bodenbesitz mit sich, eine Diskriminierung von Katholiken war die Folge. An der Konfession kann man bis heute ablesen, welche politische Haltung die Menschen gegenüber dem britischen Königreich einnehmen.
Warum sind Katholiken und Protestanten weiterhin verfeindet?
Nach 400 Jahren Geschichte, die von Feindschaft, Misstrauen und Angst geprägt waren, ist es eine Herausforderung, mit dem Gegenüber Freundschaft zu schliessen. Eine solche Veränderung setzt eine wahre Anerkennung des anderen und einen riesigen Effort der Menschen voraus. Aber viele Menschen sind zu traumatisiert und nicht bereit, diesen schwierigen Weg zu gehen. Sie wollen eine einfache Lösung.
Wo liegt die Schwierigkeit genau?
Beide Gemeinschaften sind darauf fixiert, dass sie die Opfer sind, und erwarten vom anderen ein Entgegenkommen: eine Pattsituation, in der sich nichts bewegen kann.
Wäre immerhin eine Annäherung auf politischer Ebene möglich?
Natürlich, das wird in Nordirland seit zwanzig Jahren versucht, aber ohne Erfolg. Das Misstrauen und die Missgunst dominieren nach wie vor das politische Klima. Politiker bekämpfen sich, anstatt gemeinsam an einer Zukunft zu arbeiten.
Aber gewählt werden trotzdem immer die gleichen Parteien.
Die Menschen geben ihre Stimme nicht der Partei, die für ihre Hoffnungen einsteht. Sondern ihr Votum richtet sich gegen jene, vor denen sie sich am meisten fürchten. Deshalb wählen sie mit ihrer Stimme für die eigene Partei nur das kleinere Übel, denn sie finden, die anderen seien noch extremer.
Die überkonfessionelle Mitte-Partei, die Alliance Party, will Gräben überwinden. Warum hat sie bei der Bevölkerung keine Chance?
Weil nicht die Sehnsucht nach Verbesserung das Wahlverhalten bestimmt, sondern die Hoffnung, den Feind stoppen zu können. Die Alliance Party wird stets gerügt, die Vergangenheit in ihren Zukunftsversprechungen für das Land zu wenig zu berücksichtigen. Es ist erstaunlich, dass diese Partei der Mitte überhaupt bis heute überlebt hat. Eine Mehrheit zu gewinnen, bleibt aber eine Herausforderung.
Welchen Ausweg sehen Sie aus der verfahrenen Situation?
Wir brauchen eine fundamentale Veränderung. Und diese geschehen, historisch gesehen, nur am Ende eines Krieges, wenn nichts mehr ist, wie es vorher war. Nur so könnte etwas Neues entstehen.
Aber die Troubles in Nordirland endeten doch bereits 1998.
Das Abkommen beendete zwar die Bombenanschläge, nicht aber den Konflikt. Es brachte keinen Frieden. Der Nichtangriffspakt kam zustande, weil die involvierten Akteure realisierten, dass die Auseinandersetzung nirgends hinführt.
Dann gibt es bis heute in Nordirland keinen wirklichen Frieden?
Ja. Unsere Politiker verkaufen den Frieden bis heute als einen Verlust der früheren Ziele, anstatt ihn als das Beste zu nennen, was uns passieren konnte. Wir haben weiterhin keine Einigung über Flaggen und Paraden oder darüber, wie wir mit der Vergangenheit umgehen. Und wir haben keine Vision einer gemeinsamen Zukunft.
Welche Rolle spielen dabei Grossbritannien und Irland?
Beide Länder wollten den Konflikt von der politischen Agenda haben. Ihre Regierungen waren es, die in erster Linie das Karfreitagsabkommen aushandelten. Aus politischen Gründen wurde der Vertrag als Deal verkauft, den die Nordiren selbst abgeschlossen hatten. Weder Grossbritannien noch Irland setzten danach Nordirland auf ihre Prioritätenliste. Sie haben den historischen Prozess nicht verstanden, der ihre Beteiligung auch nach dem Ende der Troubles verlangt hätte. Die Folgen spürten wir immer wieder: in der Finanzkrise 2008 oder derzeit in den Brexit-Verhandlungen.
Was hat sich der Brexit in Nordirland geändert?
Seit dem Brexit-Entscheid 2016 ist die aufkeimende Hoffnung zerstört. Einmal mehr fühlt sich Nordirland von Grossbritannien im Stich gelassen. Es wird deutlich, dass wir für die Briten keine Rolle spielen und in ihrem Bewusstsein keinen Platz haben. Auch wenn wir uns mehrheitlich für ein Verbleiben in der EU entschieden haben, bleiben wir damit wirkungslos. England hat einen unilateralen Entscheid getroffen. Das ist sehr frustrierend.
Fürchten Sie ein erneutes Aufflammen des alten Konfliktes?
Brexit hat den Effekt von Holzwürmern in einem trockenen alten Holzhaus: Die Struktur bröckelt langsam. Alle wissen das. Deshalb gehen die Leute auf Zehenspitzen durch das Haus. Die Bevölkerung schweigt. Sogar die Paramilitärs äussern sich nicht zur Situation. Würde jemand etwas zu Extremes sagen, drohte das Ganze zusammenzufallen. Die Bedrücktheit der Bevölkerung ist deutlich spürbar.
Wer das Land bereist, spürt kaum etwas von dieser Stimmung.
Wir haben so lange während der Troubles mit der Ungewissheit gelebt. Wir lernten, einen Fuss vor den anderen zu setzen. Wir sind keine Panikmacher. Wir haben 30 Jahre mit dem täglichen Risiko von Bomben gelebt und uns an den Horror gewöhnt. Eine ganze Generation hat gelernt, sich in einer ungewissen Situation zu fokussieren und einfach weiterzumachen, sein Leben zu leben. Jetzt machen wir es ebenso. Wir können nichts anderes tun, als abwarten und die Ungewissheit aushalten.
In den Brexit-Verhandlungen stellt sich die Frage, ob zwischen Nordirland und der irischen Republik wieder eine harte und damit bewachte Grenze eingeführt werden soll.
Das ist eine total abstrakte Diskussion. Eine physische Grenzinfrastruktur ist unmöglich. Vielmehr ist die Frage, wie eine nicht vorhandene Grenze reguliert werden soll. Das ist die einzige Frage. Wir haben zwei Optionen: Regulierung oder Chaos. Diese Diskussion um eine sichtbare Grenze ist bizarr, denn alle wissen, sie wird nicht andauern. In Nordirland leben sowohl britische als auch irische Staatsbürger.
1921 wurde die irische Insel aufgeteilt in die Republik und in Nordirland. Wie wird 2021 dieses Ereignis nach 100 Jahren begangen?
Das ist bis heute unklar. Wir wissen nicht, ob wir feiern oder trauern sollen. Die interne Spaltung ist in Nordirland offensichtlich. Zudem ist das äussere Umfeld schlecht. Wir sind total festgefahren und leben wie in einem Wartezimmer.