Wenn erwachsene Menschen sich entscheiden, so zu
leben, mag das ja in Ordnung sein. Doch wird es aus liberal-demokratischer Sicht nicht problematisch, sobald Kinder involviert sind?
Auch hier gilt: Die
Schweiz ist ein Sonderfall. Hier ist die Salafiyya keine Bewegung, die mit breiten
Parallelgesellschaften einher geht. Dafür sind die Grüppchen zu klein und unterschiedlich.
Weil es zudem eine Konversionsbewegung ist – als Salafi ist man nicht geboren,
man wird es – werden Kinder auch selten als Salafis erzogen. Wenn, dann kommen
sie selber auf den Geschmack, aber zurzeit kenne ich hier keine salafitische
Familie, bei der die Eltern ihre Kinder religiös überstreng einnorden – das
finden wir eher in anderen Traditionsströmungen.
Spätestens wenn die Kinder in
die Schule kommen, rasieren sich beispielsweise viele Väter den Bart, und die
Mutter legt ihre Bedeckung ab, wenn die Kinder deswegen gehänselt werden.
Gerade in der Schweiz wird starker sozialer Druck aufgebaut, wenn bestimmte
Lebens- und Erscheinungsformen die Mehrheit stören. Das halten Betroffene nicht
lange durch.
Darum plädiere ich für weitgehende Gelassenheit: Man muss sehen,
dass viele Salafis absolut friedfertig sind. Die muss man wissenschaftlich
fundiert erkennen können, und die sollten dann in einer freien Gesellschaft so
unterwegs sein dürfen, wie das auch jeder andere etwas speziell Überzeugte sein
darf – so lange es im Rahmen des Gesetzes bleibt.
Ist es kein Widerspruch, sich so stark und
wortgetreu auf die Schrift zu beziehen und sich dann im Alltag doch einigermassen
pragmatisch zu verhalten?
Die
Leute werden nicht sagen, sie seien pragmatisch geworden. Denn was sie tun, ist
auch in ihrer Schrift zu finden. In den Kleidervorschriften im Koran und in den
Überlieferungen finden Sie für fast alles eine Rechtfertigung. Nicht nur
Salafis, auch andere Muslime, die für uns jetzt extrem konservativ erscheinen,
sehen das durchaus.
Al-Albani, Minister für Islamfragen der Vereinigten
Arabischen Emirate, definiert sich selbst zum Beispiel sicher als ultimativ schriftverbunden
und klar nicht liberal – er findet aber, Frauen müssten ihr Gesicht keineswegs
bedecken. Weil er keinen Beweis dafür in der Schrift findet. Er ist übrigens
auch dezidiert gegen Krieg und findet beispielsweise, alle Palästinenser
sollten Palästina verlassen, weil sie da ihren Glauben nicht leben können. Der
Interpretationsspielraum ist also immer sehr gross.