Schule, Studium, schliesslich die Gründung einer eigenen Firma – eine gradlinige Karriere hatte Claire in ihrem Heimatland der Elfenbeinküste hingelegt. Doch ihr gewalttätiger, dominanter Vater empfand die Unabhängigkeit der unverheirateten Tochter als unerhört. So setzte er alles daran, ihr Geschäft vor anderen schlechtzureden und zu sabottieren.
Mit dem Bankrott der Firma war für die 35-Jährige klar: Für ein selbstbestimmtes Leben musste sie ihre Stadt verlassen. Ein Bekannter empfahl Claire, gleich nach Frankreich zu gehen, versprach ihr ein Visum und eine solide Arbeit. Den Flug konnte sie selbst bezahlen.
Doch die Reise wurde zum Albtraum. In Frankreich angekommen, nahm der Mann ihr den Pass ab und brachte sie in ein Bordell. Weil sie sich weigerte, Männer zu bedienen, wurde Claire geschlagen, vergewaltigt, musste hungern. Bis sie sich schliesslich fügte. Nach zwei Monaten verhalf ihr einer ihrer Freier zur Flucht. Er setzte sie in einen Zug in die Schweiz.
Tatort im Ausland
Doro Winkler von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) schildert den Fall von Claire anonymisiert. Zu gross ist die Angst der Frau, erkannt zu werden. Menschenhandel ist ein grenzüberschreitendes Geschäft.
Doch Claires Lage ist auch hierzulande prekär. Weil sie in Frankreich Opfer von Menschenhandel wurde, hat sie nur eingeschränkt Zugang zu Opferschutz. Denn das Opferschutzgesetz greift nur, wenn die Taten auch in der Schweiz verübt wurden. Damit kommt die Schweiz ihren Verpflichtungen gemäss der Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels nicht nach. Diese spricht Betroffenen Opferschutz zu – unabhängig vom Land, in dem die Taten begangen wurden. Die FIZ will diese Lücke schliessen.
Dazu hat sie das Projekt «Umfassender Schutz für Opfer von Menschenhandel im Asylbereich» entwickelt. Weil staatliche Gelder bislang fehlen, sind die katholische und die reformierte Kirche im Kanton Zürich eingesprungen. Sie finanzieren zwischen 2019 und 2021 mit je 750 000 Franken den Grossteil des auf 1,86 Millionen angesetzten Projekts.
Die FIZ bietet den Frauen Unterkunft in einer Schutzwohnung, medizinische, psychologische und juristische Betreuung. Entscheidend sind auch feste Tagesstrukturen: einkaufen, kochen, Deutschunterricht. Knapp 50 Frauen wurden seit Jahresbeginn unterstützt. «Diese Frauen haben keine Lobby. Viele können über ihre Erlebnisse kaum sprechen», sagt Doro Winkler. Meist seien die Frauen schwer traumatisiert. Die Arbeit fängt schon dabei an, die Frauen überhaupt zu erkennen. Die FIZ schult daher auch im Asylwesen tätige Personen, damit sie auf Opfer von Menschenhandel aufmerksam werden.
Die seit März geltenden beschleunigten Asylverfahren bedeuten deutlich kürzere Aufenthaltszeiten in der Schweiz. Das wiederum erschwert die Arbeit der Fachstelle. Gerade Frauen wie Claire, die über ein sicheres Erstaufnahmeland eingereist sind, haben wenig Chancen auf Asyl. Die Schweiz will sie mittels Dublin-Verfahren zügig in dieses Land rückführen.«Die Schweiz ist bei Dublin-Rückführungen im europäischen Vergleich am effizientesten», so Winkler.
Politik braucht lange
Im Erstaufnahmeland könnten die Frauen erneut in die Hände ihrer Peiniger fallen, vor allem wenn sie dort weder Freunde noch Familie haben, befürchtet die FIZ. Wird sie auf die Frauen aufmerksam, kann sie mit den Rechtsvertretern oft einen längeren Aufenthalt erwirken.
Um die Lücke beim Opferschutz dauerhaft zu schliessen, braucht es die Politik. Zumal die Unterstützung der Kirchen zeitlich begrenzt ist. Zwar stimmte die Synode nahezu einstimmig für das Projekt, «eine Verlängerung hätte aber wohl keine Chance», sagt Ivana Mehr, zuständig für Migration in der reformierten Landeskirche.
Doch an politischer Front geht es eher langsam voran. 2016 wurde die Opferschutzlücke in den Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel aufgenommen. Nachdem sich Bund und Kantone über die Zuständigkeit einigten, landete das Problem bei der Sozialdirektorenkonferenz (SODK). Fachleute sollen nun bis 2020 mögliche Lösungen erarbeiten. Generalsekretärin Gaby Szöllösy sieht die SODK zeitlich auf Kurs, räumt aber ein, dass eine politisch umsetzbare Lösung «noch etwas dauern wird».
Auch Claire wartet – auf einen Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts. Dort hat sie Beschwerde eingelegt. Denn das Staatssekretariat für Migration wollte sie auf direktem Weg nach Frankreich zurückschicken.