Porträt 30. November 2021, von Anna Six

Wie Märchen helfen, die Bibel zu verstehen

Erzählen

Was hat der Baum der Erkenntnis mit einem verbotenen Schlüssel zu tun? Theologin Moni Egger verbindet die biblische mit der Märchenwelt.

Die Bitte, eine Geschichte zu erzählen, erfüllt Moni Egger ohne Zögern. Sie steigt dazu aufs Dach des alten Industriegebäudes in Zürich-Binz, wo sie seit Kurzem ihr Atelier hat. «Wer weiss, wie viele Eichhörnchen mithören», sagt sie mit Blick auf die umstehenden Bäume.  

Moni Egger hält inne und setzt an: «Es ist ein eiskalter Wintertag. Rundum liegt knietief Schnee.» Und tatsächlich sieht man beinahe jetzt statt der leuchtenden Herbstblätter - eine weisse Welt vor sich.

«Das Geheimnis des Geschichtenerzählens ist, Bilder zu erzeugen», sagt Egger. «Wenn ich Bilder vor mir sehe, kommen sie auch bei den Zuhörenden an.» Die 45-Jährige muss es wissen: Sie ist Märchenerzählerin, gibt Erzählkurse und verknüpft die Welt der Geschichten mit jener der Theologie.

Ins Hebräische verliebt

Was das heisst, erklärt sie am Beispiel der Maria von Nazareth. In der Bibel wird die Frau, die Jesus gebar, nur an wenigen Stellen erwähnt. Um von ihrem Leben, Fühlen und Glauben zu erzählen, reichert Moni Egger das Wissen mit Fantasie an.  

Hokuspokus ist das nicht, vielmehr erfordert das Erzählen intensive Recherche zum Alltag in neutestamentlicher Zeit. «Als promovierte Bibelwissenschaftlerin und Exegetin habe ich hier einen guten Stand.»

Moni Eggers erster Beruf war Primarlehrerin. Nach einem Crashkurs in Katechese durfte sie ihre Klasse auch in Religion unterrichten – für die junge Lehrerin das Schönste. Ihre Mutter habe sie dann ermuntert, Theologie zu studieren. Beim Erlernen der antiken Sprachen schöpfte sie aus dem Vollen: «Ins Bibelhebräisch habe ich mich regelrecht verliebt.» Auf das Studium folgte die Ausbildung als Märchenerzählerin.

Dank der Märchensprache habe sie Bibel und Theologie erst richtig verstanden, sagt Egger. Das Bild des verbotenen Paradiesbaumes etwa: Dazu gibt es in zahlreichen Märchen die Analogie eines verbotenen Schlüssels. Im Überschreiten der Grenze liegt für die Erzählerin der Sinn dieser Geschichten. «Es sind archetypische Motive, die sich unterschiedlich zeigen. Was die Menschen als Menschen angeht, ist seit Urzeiten dasselbe.» Die Texte der Bibel hätten die Märchenliteratur beeinflusst. Und beide seien eigentlich mündliche Formen: «Sie leben davon, dass sie erzählt werden.»  

Innere Bilder wachrufen

Auch Egger lebt davon, dass sie erzählt – aber nicht nur. Sie hat einen Lehrauftrag für Bibelhebräisch an der Universität Luzern und ist Erwachsenenbildnerin. Am meisten schlägt ihr Herz dafür, Wissen durch Erzählkunst zu vermitteln.  

In ihrem Referat «Frauen spinnen Schicksalsfäden» etwa erläutert sie das Motiv des Spinnens von der Antike bis in die Neuzeit und verfolgt dessen Spuren in den Märchen. Neuerdings beherbergt Egger im Atelier in Zürich-Binz die Bibliothek der Schweizerischen Märchengesellschaft. Diesen buchstäblichen Märchenschatz können Interessierte ab 2022 vor Ort benutzen.

Mit einem Schatz endet auch die Geschichte auf dem Dach. Moni Egger hat frei erzählt, ihr einziges Hilfsmittel ist die Vorstellungskraft. Sich auf die bildhafte Sprache der Märchen einzulassen, fällt ihrem Publikum nicht immer leicht. «Kinder sind heute vielen äusseren Bildern ausgesetzt und brauchen Zeit, innere Bilder entstehen zu lassen.» Der Schatz aber funkelt am hellsten in der Fantasie.