Gabrielle Wyler ist in ihrer konfessionellen Wahlheimat definitiv angekommen. In der evangelisch-reformierten Kirche nämlich, die ihr in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht zuletzt wegen ihrer reformiert getauften Kinder immer vertrauter geworden war. So sehr, dass die Mutter im Herzen schon längst reformiert war, als sie auf dem Papier noch als römisch-katholisch galt. Aus dem Herzgefühl ist jetzt eine amtliche Tatsache geworden: Gabrielle Wyler aus Niederscherli ist vom katholischen zum reformierten Glauben übergetreten.
Damit gehört sie zu jenen Menschen, die einen kleinen Ausgleich schaffen zum grossen Davonlaufen bei den Reformierten: Während in den letzten Jahren Tausende ihrer Landeskirche den Rücken gekehrt haben, sind doch auch Hunderte neu eingetreten; zahlenmässig kompensieren diese die Verluste zwar nicht, aber immerhin.
Zu gehäuften Austritten kam es letzthin auch bei den Katholiken, befeuert durch die sexuellen Missbrauchsskandale und die konservative Haltung des Papstes in der Abtreibungsfrage. Als diesen Frühling neue Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit gelangten, reichte es auch Gabrielle Wyler. «Hinter der machtbewussten katholischen Kirche mit ihrem verkrusteten Priestertum und der doppelbödigen Moral kann ich nicht mehr stehen», sagt sie. Die Vorstellung, sich nach einem Protestaustritt quasi heimatlos im kirchenfreien Raum wiederzufinden, gefiel ihr aber auch nicht. «Ich besprach die Angelegenheit mit meinem Mann; dabei wurde klar, dass er reformiert bleibt, und für mich wurde klar, dass ich es nun auch werden wollte.»
Ein Ohr für Opfer
Die Abkehr von der katholischen Kirche lässt sich heute unkompliziert mit einem Austrittsschreiben vollziehen. Mit ebenfalls geringem Aufwand verbunden ist die Anmeldung bei den Reformierten. Auf Gabrielle Wylers Wunsch brachte der reformierte Gemeindepfarrer die Bei-tritts--urkunde persönlich vorbei; auf ein Segnungsritual oder eine Erwähnung im Gottesdienst verzichtete sie jedoch.
Rituale hatte sie als katholisch aufgewachsenes Kind viele erlebt, und sie war davon auch fasziniert, von der Messe, den Farben, dem Weihrauch, der komplexen Liturgie. Das war das Erbe ihrer Mutter, die «sehr katholisch» war. Ihr Vater hingegen lebte einen «offenen Protestantismus», der nach und nach auf die Tochter abfärbte. Hinzu kommt, dass sie als Therapeutin und Fachberaterin bei der Opferhilfe besonders sensibilisiert ist für die Geschichten geschädigter Menschen. Entsprechend reagierte sie mit zunehmender Empörung auf die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, wie sie in den letzten Jahren immer wieder publik wurden. «Eine solche Kirche mit solchen Strukturen ist für mich unglaubwürdig», sagt sie.
Spirituell statt gläubig
Überhaupt – der Glaube. «Glauben heisst für mich etwas für wahr halten, das in starren Glaubenssätzen festgeschrieben ist», erklärt sie. Mit diesem Dogmatismus könne sie nichts anfangen. So gesehen, sei sie spirituell, aber nicht «gläubig» oder «religiös» im eigentlichen Sinn. Kirche als Institution sei ihr jedoch wichtig, und wichtig sei ihr ebenso, dass diese ihre Mitglieder zu eigenständigem Denken ermuntere.
In Gabrielle Wylers Umfeld wurde ihre Konversion wohlwollend aufgenommen, als «mutig» und «reflektiert» bezeichnet. Anders tönte es bei ihren reformierten Kindern: «Was, du willst wirklich reformiert werden?», fragten Sohn und Tochter. Denn diese haben Gegenteiliges im Sinn – sie wollen austreten, wie viele jüngere Menschen auch.
Ihre Mutter steht indes zu ihrem Beitritt. «Es braucht die Kirche in jedem Dorf und in jeder Stadt», ist sie überzeugt. «Sie ist ein Zufluchtsort für Leidende und gibt der Gesellschaft Halt.» Und: «Sie bietet viel, alle kommen zum Zug, Alte, Junge, Familien, Alleinstehende.» In dieser offenen Breite drücke sich gelebte Kirche aus.
