In wenigen Sekunden schlägt es elf Uhr. Dann wird sich die Glocke oben rechts in Bewegung setzen. Letzte Gelegenheit, zu überprüfen, ob der Gehörschutz richtig sitzt. Hans Thomann kauert zuoberst im Turmgebälk, das er mit einer Leiter erklommen hat. Er grinst spitzbübisch, voller Vorfreude auf den Moment, wenn der Klöppel mit voller Wucht wieder und wieder auf das Metallgehäuse aufschlägt.
Der Glockenjäger verewigt den Moment
Der Aktionskünstler Hans Thomann visualisiert mit einem eigenen Abklatschverfahren Glockenschläge. Es entstehen magische blaue Flecken.
Aktionskünstler Hans Thomann in schwindelerregenden Höhen. (Foto: Martin Guggisberg)

Munotglöcklein ist ein Muss
Es ist so weit. Jeder Gedanke unterwirft sich nun dem durchdringenden Geläut. Die Welt ist weit weg, der schwingende Glockenstuhl der Kirche Offener St. Jakob am Stauffacher in Zürich ist jetzt die Welt. Der Aktionskünstler aus St. Gallen will festhalten, was da klingt und im Augenblick des Aufpralls bereits wieder verklingt: den Glockenschlag. Mehr noch: möglichst viele Glockenschläge von verschiedenen Kirchen im In- und Ausland. «Ich bin ein Glockenjäger», sagt er nicht ohne Selbstironie. Dazu hat Thomann eine ebenso simple wie raffinierte Technik entwickelt: Er klebt ein Papier zusammen mit einem Durchschlagpapier direkt an die innere Glockenwand. Dabei hinterlässt der aufschlagende Klöppel einen blauen, dem Klecks aus einem Rohrschachtest ähnelnden Abdruck. Jeder Glockenschlag ist einmalig, verfügt in den Worten des Künstlers über einen «eignen Fingerprint». 40 Abdrücke hat er in den letzten Jahren angefertigt. Sichtbar wird das Geläut von kleinen, feinen oder von gigantischen Glocken, etwa von der «Pummerin» im Wiener Stephansdom. Mit ihren 21 Tonnen ist sie die grösste frei schwingende Glocke der Welt. Der Klöppel-Aufschlag war derart heftig, dass das Papier dabei Schaden nahm. Was Thomann noch fehlt, aber zwingend in die Sammlung gehört: das im 16. Jahrhundert gegossene, helle Munotglöcklein. Den Künstler faszinieren vor allem die mit «klingenden und oft vergessenen Zeitzeugen» verbundenen Geschichten. Wie jene vom Berner Münster. 1943 waren dort noch drei Glöckner tätig. In der Silvesternacht stieg das Trio betrunken auf den Turm, um anzustossen, da begann die Glocke zu schwingen. Einer der Glöckner wurde erschlagen und starb. Kurz darauf wurden auch die Münster-Glocken als letzte in der Schweiz elektrisch betrieben.
Kunst und Maschine
Mittlerweile steht Thomann wieder aufrecht auf dem Boden des Dachstuhls. Er betrachtet, ja bewundert das soeben entstandene Kunstwerk. «Dieser Abdruck ist speziell schön.» Während andere zum Teil wolkig und ausufernd seien, sei der Glockenschlag des St. Jakobs «konzentriert und oval wie ein Auge». Fein säuberlich beschriftet er jetzt mit Bleistift die Rückseite des Blattes, notiert neben Zeit und Ort auch wichtige Angaben zur jeweiligen Glocke: Gewicht, Entstehungszeit oder Stimmung. Beobachtet man ihn, wird klar, Thomann geht nach einem Plan vor. Er ist organisiert und arbeitet mit der Präzision des Uhrmachers. «Meine Eltern beharrten trotz meines Wunsches, Künstler zu werden, auf einer soliden Erstausbildung als Maschinenbaukonstrukteur, was mir heute zugutekommt.» Die blauen Punkte allerdings haben etwas Magisches. Wenn man nur lange genug hinschaut, glaubt man tatsächlich, eine Glocke läuten zu hören
Geboren in Niederuzwil, machte er eine Lehre als Maschinenbaukonstrukteur und besuchte dann die Kunstgewerbeschulen St. Gallen und Salzburg. Für seine unzähligen Kunstwerke – Malerei, Skulpturen und Kunst am Bau, auch im kirchlichen Bereich – erhielt er diverse Auszeichnungen.