Christoph Walser, die Debatte um Männlichkeit ist neu entflammt, nachdem sie nach den Neunzigerjahren vom Radar verschwunden war. Was ist los?
Es tritt vermehrt ins Bewusstsein, dass sich einseitig traditionelle Männlichkeit auch verheerend auswirken kann, ich denke da an Femizide, an Frauenhasser im Internet oder sexuellen Missbrauch. Leider interessiert sich die Gesellschaft vor allem dann für Männer, wenn sie destruktiv werden.
Sie sind Pfarrer und Mitglied der Fachgruppe Männerarbeit im kirchlichen Kontext, die im Februar 2022 gegründet wurde, um auch dort die Debatte zu befeuern. Inwiefern steht die Kirche in der Pflicht?
Zunächst verlangen die Missbräuche, die in der katholischen Kirche aufgedeckt wurden und nun auch in der reformierten Kirche untersucht werden, nach einer männerspezifischen und männlichkeitskritischen Bearbeitung, denn die Täter sind fast alle Männer. Zudem findet weltweit eine Radikalisierung statt. Nicht nur jagen sich überall praktisch nur Männer für irgendwelche Ideologien in die Luft, eine ganze Reihe Politiker lebt auch offensiv ein destruktives Männerideal vor.
Was hat die Kirche dem entgegenzustellen?
Ein Männerideal, das dem machtvollen Patriarchen diametral gegenübersteht. Jesus ist das Antimodell. Er durchbrach die Rollenerwartung an einen damaligen Mann radikal und stellte sich gegen patriarchale Macht. In der Bibel gibt es viele macht- und damit männlichkeitskritischen Stellen. Darum hat die Kirche von ihrer Tradition her den Auftrag, sich für eine konstruktive, friedliche Männlichkeit und Gesellschaft einzusetzen. Sie ist Expertin im Fördern von Gemeinschaft.