Politik 11. November 2025, von Astrid Tomczak-Plewka

«Wir waren völlig ausser uns»

Gaza

Von der berechtigten Verteidigungsreaktion zum Rachefeldzug mit schrecklichen Konsequenzen: der israelische Schriftsteller Yishai Sarid über eine Gesellschaft im Schockzustand.

Das letzte Mal haben wir ein paar Wochen nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel gesprochen. Wie geht es Ihnen heute, zwei Jahre später?

Yishai Sarid: Es ist noch nicht vorbei. Das waren schreckliche Jahre – so viel Blutvergiessen, Elend und Spannungen. Nicht nur mit Gaza, sondern auch mit dem Iran. Während des Krieges mit dem Iran stürzte meine Frau auf dem Weg zum Schutzraum und brach sich den Ellbogen. Sie musste zweimal operiert werden. Das sind nur kleine Teile einer viel größeren Tragödie. Aufgrund des Waffenstillstands ist es jetzt etwas ruhiger, und ich hoffe sehr, dass er hält.

In unserem letztem Gespräch sagten Sie, Israels Reaktion auf den Terroranschlag sei hart, aber gerechtfertigt. Würden Sie das heute noch so sagen?

Diese Reaktion war absolut gerechtfertigt – es war Selbstverteidigung. Aber was danach geschah, ist eine andere Geschichte. Der Krieg dauerte viel länger und war weitaus tödlicher, als er hätte sein müssen. Ein Teil davon wurde zu einem Rachekrieg, der weit über Selbstverteidigung hinausging. Ich verstehe den Wunsch nach Rache, das ist menschlich. Aber Netanjahu hatte nie die Absicht, den Krieg zu beenden – er diente seinen politischen Interessen. Und es gab schreckliche, unnötige Tötungen von Zivilisten in Gaza.

Yishai Sarid, 59

Yishai Sarid, 59

Der Schriftsteller wurde 1965 in Tel Aviv geboren, wo er bis heute lebt. Nachdem er als Nachrichtenoffizier in der israelischen Armee tätig war, studierte Yishai Sarid in Jerusalem und an der Harvard University und arbeitete als Staatsanwalt. Heute ist er als Rechtsanwalt und als Autor tätig. In seinen Romanen setzt er sich immer wieder mit der israelischen Gesellschaft auseinander.

Wir sehen immer noch neue Angriffe und Opfer. Wie reagieren Sie darauf?

Es ist schrecklich – was soll ich sagen? Krieg ist schrecklich. Wenn Krieg herrscht, sterben Zivilisten und Kinder. Das passiert. Dennoch war das, was in Gaza geschah, völlig unverhältnismässig. Ich verstehe den Schock nach dem 7. Oktober. Damals sagten viele Israelis, sogar gemässigte, die Palästinenser hätten keine Gnade verdient. Wir waren völlig ausser uns. Das ist die einzige Erklärung dafür, was danach passiert ist.

Sie sagten, die Regierung habe nicht wirklich die Absicht gehabt, den Krieg zu beenden. Was müsste sich in Israel ändern, um Frieden möglich zu machen?

Seit den Osloer Verträgen in den 1990er Jahren haben viele Israelis die Hoffnung auf Frieden verloren. Die Terrorwelle nach Oslo, die Ermordung von Premierminister Yitzhak Rabin, die gescheiterten Camp-David-Gespräche – all das hat das Vertrauen zerstört. Und der 7. Oktober war ein weiterer verheerender Schlag. Veränderungen müssen auf beiden Seiten stattfinden. Ich gebe nicht nur uns die Schuld – auch die Palästinenser tragen einen großen Teil der Verantwortung.

Aber innerhalb Israels scheint die Opposition gegen die Regierung zu schwach, um Veränderungen herbeizuführen. Warum?

Weil die meisten Israelis einfach nur in Sicherheit leben wollen. Sie vertrauen den Palästinensern nicht mehr. Sie denken: Wenn wir sicher sein könnten, dass sie einen Friedensvertrag einhalten würden, würden wir ihn abschliessen. Aber nach allem, was passiert ist, glauben die meisten Menschen einfach nicht daran. Und dann gibt es noch die Siedler und Extremisten, die überhaupt keinen Frieden wollen – sie wollen die Gebiete und träumen davon, den Tempel wieder aufzubauen. Das ist die Realität.

Ich versuche zu verstehen und darzustellen, was mit uns geschieht. Ich nehme auch an Protesten gegen die Regierung teil.

Wie sehen Sie als Schriftsteller Ihre Rolle in dieser Situation?

Ich habe keine Rolle. Ich schreibe über das Leben in Israel. Mein jüngster Roman „The Panelist“ begann vor dem Krieg, aber dann hielt der Krieg Einzug in die Geschichte. Er handelt von einem einstmals gefeierten, später gescheiterten Journalisten, der bei einem patriotischen, pro-Netanjahu-Fernsehsender landet. Anhand dieser Figur zeige ich, wie Menschen sich dem Nationalismus und Rassismus hingeben. Ich versuche also zu verstehen und darzustellen, was mit uns geschieht. Ich nehme auch an Protesten gegen die Regierung teil. Ich bin kein grosser Redner, aber ich tue, was ich kann. 

Ist der Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft auch auf Erschöpfung zurückzuführen?

Er ist das Ergebnis jahrzehntelanger Konflikte und auch eines kulturellen Wandels – Israel ist religiöser geworden. Die säkulare, sozial progressive Elite, die das Land aufgebaut hat, hat ihren Einfluss verloren. Jetzt haben wir eine Mischung aus Nationalismus und primitiver Religion, die die Politik prägt. Das ist nicht einzigartig für Israel – man sieht es auch in den USA und in Europa. Es ist ein globaler Trend.

Es ist schwierig, sich ein Bild zur Lage in Gaza zu machen: Journalisten dürfen nicht nach Gaza einreisen. Warum schränkt Israel sie ein? 

Ich bin kein Regierungssprecher, aber wahrscheinlich will die Regierung nicht, dass die Realität gezeigt wird. Möglicherweise fürchtet sie auch um die Sicherheit der Journalisten. Vor allem aber will sie nicht, dass die Wahrheit ans Licht kommt. 

Kritik an Israel legitim – es gibt viel zu kritisieren. Aber wir müssen zwischen berechtigter Kritik und Antisemitismus unterscheiden.

Ist die Kritik an Israel in Europa antisemitisch geworden?

Kritik an Israel legitim – es gibt viel zu kritisieren. Aber wir müssen zwischen berechtigter Kritik und Antisemitismus unterscheiden. Für mich ist der Test einfach: Wenn jemand sagt, die Hamas habe zu Recht israelische Zivilisten angegriffen – gemetzelt, vergewaltigt und getötet –, dann ist das Antisemitismus. Wenn jemand jedoch sagt, die Hamas sei böse und Israel habe ebenfalls schreckliche Dinge getan, dann ist das legitime Kritik. Der Schlüssel liegt in Ehrlichkeit und moralischer Klarheit. Die Menschen müssen sich selbst hinterfragen – ihre Ehrlichkeit und ihre Motive. 

In manchen Demonstrationen hier in Europa wird die Gründung Israels als unrechtmässiger Akt dargestellt. 

Ich finde nicht, dass die Staatsgründung ein kolonialistischer, böser Akt war. Ich bin Zionist in dem Sinne, dass Juden wie jedes andere Volk das Recht auf Selbstbestimmung und einen Staat haben. Die rechtsgerichtete Regierung hat Israel schwer geschadet, indem sie seine Existenz zu einem Thema moralischer Kontroversen gemacht hat. Aber Extremisten kümmern sich nicht um das Image Israels; sie folgen ihren religiösen Fantasien.

Einige argumentieren, dass der Antisemitismus in Europa heute eher von der politischen Linken als von der Rechten ausgeht. Wie sehen Sie das?

Ich bin mir nicht sicher – ich lebe nicht in Europa. Aber ich weiss, dass einige rechtsextreme Bewegungen Israel derzeit unterstützen, weil sie Muslime ablehnen, genau wie unsere Regierung. Es ist eine zynische Allianz. Viele dieser Gruppen sind neofaschistisch oder sogar neonazistisch, dennoch freundet sich Israel derzeit mit ihnen an. Aber ich denke, ein Rassist macht keinen Unterschied zwischen Muslimen und Juden. Er ist einfach rassistisch.

Ich glaube immer noch daran, dass der Konflikt gelöst werden kann. Mit gutem Willen auf beiden Seiten ist das möglich.

In Ihrem Roman «Siegerin» beschreiben Sie die psychologischen Auswirkungen des Krieges. Was macht dieser Krieg aus jungen Menschen?

«Siegerin» zeigt, wie die Armee 18-Jährige durch Training und psychologische Manipulation zu Menschen macht, die im Notfall töten können. Das ist die Aufgabe von Armeen. Die meisten Israelis sehen die Bewohner Gazas nicht als Opfer, sondern als Menschen, die die Hamas unterstützen. Sie denken: Wir haben uns vor 20 Jahren aus Gaza zurückgezogen, und sehen Sie, was sie getan haben. Um damit leben zu können, nutzen Soldaten Gruppenpsychologie – man unterdrückt seine Zweifel, um Teil der Herde zu bleiben. Wenn man das in Frage stellt, ist man raus.

Trump sprach einmal davon, Gaza in ein Resort zu verwandeln. Was halten Sie davon?

Das war von Anfang an Unsinn. Ich glaube nicht, dass Trump es ernst meinte, er kannte die Situation auch nicht. Aber die israelische Rechte war von der Idee sehr begeistert und sprach davon, Gaza in eine Riviera zu verwandeln. Ich bin Trump dankbar, dass er die Idee begraben hat. Und vor allem, dass er den Krieg beendet hat. Ohne ihn hätte Netanjahu ihn ewig weitergeführt. Trumps Motive sind mir egal – aus israelischer Sicht hat er etwas Gutes getan, indem er einen Waffenstillstand erzwungen und die Geiseln zurückgebracht hat. 

Was gibt Ihnen Hoffnung für die Zukunft?

Ich glaube immer noch daran, dass der Konflikt gelöst werden kann. Mit gutem Willen auf beiden Seiten ist das möglich. Vielleicht nicht morgen, aber irgendwann– es geht um Territorium, Rechte und Würde, Vielleicht werden die amerikanischen Interessen dazu beitragen, dies voranzutreiben. 

Ich könnte überall schreiben, aber es wäre anders. Ich bin hier emotional und kulturell sehr verwurzelt.

Ihre Werke sind stark von der Situation in Israel geprägt. Könnten Sie auch in einem anderen Land schreiben?

Das Schreiben ist – abgesehen von meiner Familie –das Wichtigste für mich. Es hält mich am Leben, geistig gesund und manchmal macht es mich sogar glücklich. Ich könnte überall schreiben, aber es wäre anders.  Ich bin hier emotional und kulturell sehr verwurzelt. Aber wenn etwas Extremes passiert, was kann ich dann tun? Ich werde weiter schreiben, wo immer ich kann.

Meine Tochter war kürzlich sehr beeindruckt von einem Dokumentarfilm über einen sehr angesehenen Rapper, der in einer Kokainabhängigkeit gelandet ist. Ich sagte ihr, dass grosse Werke in Kunst, Musik und Literatur oft von Schmerz genährt werden. Trifft das auch auf Ihre Bücher zu?

Ich verstehe, was Sie meinen. Aber eigentlich bin ich gerade dabei, einen neuen Roman fertigzustellen – ich habe nur für unser Interview eine Pause eingelegt. Und dieses Mal konnte ich keine weitere Tragödie schreiben. Die Geschichte spielt vor 2000 Jahren; sie ist recht optimistisch, sogar fröhlich. Sie gefällt mir sehr gut. Ich bin mir nicht sicher, ob sie glücklich ist, aber sie ist anders. Ich stimme zu, dass Schmerz oft Kunst inspiriert, aber ich möchte wirklich etwas schreiben, das aus einer anderen Quelle stammt – vielleicht eine Liebesgeschichte.