Da sein für Menschen am Lebensende

Sterbebegleitung

Seit 30 Jahren gibt es das Hospiz Aargau. Seit vielen Jahren trägt Susanna Brun die Arbeit mit: Als Freiwillige begleitet sie Menschen am Lebensende mit Ruhe, Zeit und Empathie

Es ist sieben Uhr morgens. Im Stationszimmer des Hospizes Aargau in Brugg sitzen drei Frauen und ein Mann um den Tisch: Morgenrapport im Pflegeteam. Der Krankenpfleger Alen berichtet, wie es den zehn Patientinnen und Patienten in der vergangenen Nacht ergangen ist. Auf einer Wandtafel stehen ihre Namen und Jahrgänge, die jüngste 1960, der älteste 1926. Hinter einem Namen ist ein Datum vermerkt. Herr Conti (die Namen aller Patienten und Patientinnen sind geändert) ist am Vortag gestorben. Vor der geschlossenen Tür seines Zimmers brennt eine Kerze. 

Herr Meierhans habe ruhig geschlafen, sagt Alen.
Frau Leutschi dagegen sei extrem unruhig gewesen, sie brauche weiterhin permanent eine Sitzwache. «Sie nimmt Medikamente nur von bestimmten Personen, man muss sehr aufmerksam auf sie eingehen», sagt er. Alle nicken. Sie wissen, dass die 65-Jährige mit dem Tod kämpft.

Vom Leben geschult

Normalerweise ist Susanna beim Rapport dabei. Jetzt aber sitzt die 68-Jährige am Bett von Frau Leutschi. Mit etwas Öl massiert sie ihr sanft die Wade, ab und zu wechseln sie ein paar Worte. Susanna gehört zu den rund 120 Freiwilligen, ohne die das Hospiz nicht funktionieren würde. Sie kommt zweimal pro Woche für eine Schicht, in intensiven Phasen auch öfter. 

Ich wollte nach der Pensionierung etwas Sinnvolles tun
Susanne Brun

Die Rentnerin hilft beim Umlagern, frischt Blumen auf, holt die Post, hört Angehörigen mitfühlend zu. «Ich wollte nach der Pensionierung etwas Sinnvolles tun», sagt sie. Susanna hat vor vielen Jahren ihren damals 38-jährigen Mann in den Tod begleitet. Kurz darauf starben ihr Schwiegervater und ihre Mutter. «Das war eine intensive Lebensschulung. Seither weiss ich, wie wichtig Präsenz für Sterbende ist.»
Heute arbeitet sie noch einen Tag pro Woche im Verkauf und seit Kurzem als selbstständige Trauerbegleiterin. Auf ihrer Visitenkarte ist eine Perle in einer Auster abgebildet. Sie steht für das Schöne, das im Schweren wachsen kann.

Es geht um eine umfassende Spiritualität.
Susanna Brun

Etwas später richtet Susanna in der Küche die Frühstückstabletts. Auf einem Papier steht, wer laktosefreie Milch möchte oder wessen Tee im Schnabelbecher serviert werden soll. Jedes Mal, wenn die Digitalanzeige rot aufleuchtet, eilt Susanna in eines der Patientenzimmer. In einer Kaffeepause erzählt sie, dass sie von vielen Leuten gefragt werde, wie sie die Arbeit im Hospiz aushalten könne. Aber sie sehe nicht nur das Sterben. «Es geht um eine umfassende Spiritualität.»

Der Trost der Glocken

Einmal habe sie die Hand einer Sterbenden gehalten. «Sie lag ruhig mit geschlossenen Augen im Bett, eine Träne rollte über ihre Wange. Als ich kurz in die Küche ging, starb sie.» Ein anderes Mal hörte sie gemeinsam mit einer Patientin den Kirchenglocken durchs offene Fenster zu. «Solche Momente von Verbindung und Geborgenheit erlebe ich hier immer wieder», sagt sie. «Das ist für mich Spiritualität. Das ist Kirche.»
Die Digitalanzeige piepst nun gegen Mittag seltener. Susanna stattet Herrn Meierhans einen Besuch ab. Die Tür steht offen. Mit gespielter Ernsthaftigkeit imitiert sie seine tiefe Stimme, begrüsst ihn mit Schalk in den Augen. Herr Meierhans lacht auf. «Sie sind das blühende Leben!» Susanna seufzt übertrieben. «Na ja, auch ich gehe aufs Ende zu. Wir alle doch.»

Seit ich hier arbeite, gewichte ich vieles in meinem Leben anders.
Ardita, Fachfrau Gesundheit

Herr Meierhans leidet an einem bösartigen Tumor, doch der Zustand des 88-Jährigen hat sich so stabilisiert, dass er bald in ein Pflegeheim verlegt wird. Lieber würde er bleiben. «Hier ist es wunderbar.» Er habe erst lernen müssen, offener zu sein, sich emotional berühren zu lassen. Als er das erzählt, glänzen seine Augen feucht. Und mit einem verlegenen Lächeln fügt er an: «Ich bin ein Weichei geworden, doch eigentlich fühlt sich das ganz schön an.»

Ausbildung bieten Aargauer Landeskirchen

Die besondere Stimmung im Hospiz berührt auch das Personal immer wieder. Für Ardita, 32, ist es der erste Arbeitsort nach ihrer Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit. «Hier haben wir Zeit für die Menschen, und ich kann meine Berufung leben», sagt sie. Die Patienten sagen ihr, ihre Ruhe übertrage sich auf sie. «Das zu hören macht mich glücklich.» Vieles geht ihr aber sehr nahe. «Wenn junge Menschen sterben, nimmt mich das mit. Doch es zeigt mir, dass ich nicht kalt werde.» Seit sie hier arbeite, gewichte sie vieles in ihrem Leben anders.

Dass es diesen Ort im obersten Stock des Medizinischen Zentrums Brugg gibt, ist einer Vision zu verdanken. Vor 30 Jahren gründete Luise Thut das Hospiz Aargau. Sie wollte damit ein Umfeld schaffen, in dem Menschen ihre letzte Lebensphase geborgen und in Würde durchleben können. Zunächst begleiteten Freiwillige Sterbende zu Hause. Die stationäre Abteilung mit zehn Betten und 30 Angestellten kam später dazu. Heute gibt es für Hinterbliebene im Kanton Aargau acht Trauertreffs. Noch immer sind die Freiwilligen das Rückgrat. Wie Susanna haben die meisten die Kurse der Aargauer Landeskirchen absolviert. Dort lernen sie, Sterbende und Trauernde achtsam zu begleiten. Jährlich leisten sie über 10 000 Stunden Präsenz und Zuwendung. 

Am Mittag sitzt Susanna wieder bei Frau Leutschi. Sie cremt deren Hände ein. Zwischendrin zeigt sie auf die besonderen Wolkenformationen am Himmel. «Schau, gleich kommt das Sünneli.» Frau Leutschi lächelt schwach, lehnt sich zurück und schliesst die Augen. Als sie eingeschlafen ist, nimmt Susanna ein Buch aus ihrer Tasche und beginnt zu lesen.
Zehn Tage später brennt vor Frau Leutschis Zimmer eine Kerze. Vor ihrem Tod fand sie zu ihrem inneren Frieden. 

Hospize auf unstabilen finanziellen Beinen

Das Hospiz Aargau kämpft wie hierzulande alle Hospize mit einer unsicheren Finanzierung. Es muss rund 40 Prozent seines Budgets mit Spenden decken. «Wir leben vom Idealismus», sagt Geschäftsführer Dieter Herrmann. Ein Modell wie im Wallis, wo Hospizbetten voll finanziert sind, wäre nötig. Zurzeit gibt es 72 Hospizbetten in der Schweiz. Studien zeigen: Mindestens 300 wären erforderlich, um den Bedarf zu decken.